Prantls Blick:Die langen Wehen der Wahrheit

NSU-Prozess München - Richter Manfred Götzl

Nach anfänglichen Schwächen hat der Oberste Richter Manfred Götzl den Prozess sehr gut geführt.

(Foto: Tobias Hase/dpa)

Schuld und Sühne: Was bleibt von fünf Jahren NSU-Prozess? Wie frisst sich ein solcher Strafprozess in Kopf, Herz und Seele des Richters?

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Als dieser Prozess vor fünf Jahren begann, hieß der deutsche Außenminister noch Guido Westerwelle; drei weitere Außenminister nach ihm hat die Bundesrepublik seitdem erlebt. Und der Münchner Oberbürgermeister hieß damals, 2013, noch Christian Ude. Dieser Prozess war fast so etwas wie ein Element der Kontinuität in einer turbulenten Welt. Minister, Oberbürgermeister und US-Präsidenten kamen und gingen - der Prozess am Oberlandesgericht München blieb, und der Vorsitzende Richter hieß und heißt Manfred Götzl.

Im NSU-Prozess ergeht in wenigen Tagen das Urteil - nach fünf Jahren, nach 437 Verhandlungstagen. Richter Götzl und sein Strafsenat haben 500 Zeugen angehört; Götzl ist der Altersgrenze näher gerückt in dieser Zeit, im Dezember wird er 65. Am kommenden Mittwoch verkündet er nun das Urteil.

Wie ergeht es einem Richter, wenn ein Prozess schier kein Ende nimmt?

An so vielen Tagen dieses Verfahrens, bei so vielen Nachrichten aus dem Prozess habe ich mich gefragt, wie es dem Vorsitzenden Richter in so einem Ewigkeits-Verfahren wohl ergehen mag. Die Angeklagte Zschäpe wurde und wird am Morgen jedes Verhandlungstages vom Gefängnis in München-Stadelheim zum Gerichtsgebäude gefahren. Fühlt sich auch der Richter eines solchen Verfahrens wie in einem Gefängnis? Wie ergeht es einem Richter, wenn ein Prozess schier kein Ende nimmt, wenn ein und dasselbe Verfahren mit ein und denselben Prozessbeteiligten Jahre dauert, wenn die Augen der nationalen und der internationalen Öffentlichkeit einmal gespannt, dann wieder gelangweilt, aber jedenfalls fast immer auf einen gerichtet sind?

Ich war selber einmal Richter, es ist lange her, ich saß unter anderem als Beisitzer in einem Schwurgericht. Der längste Strafprozess, den ich selbst erlebt habe, hat zwölf Tage gedauert. Aber schon der ist mir ziemlich nachgegangen.

Hat Götzl von Zschäpe geträumt, gealbträumt?

Was macht ein Prozess, der fünf Jahre dauert, der fast fünfhundert Verhandlungstage braucht, mit einem Richter? Was macht es mit ihm, wenn er den Prozess auch am Wochenende nicht aus dem Kopf kriegt und auch nicht im Urlaub, jahrelang? Hat Götzl von der Angeklagten Zschäpe geträumt, gealbträumt? Wie frisst sich so ein Prozess in Kopf, Herz und Seele? Liegt so ein Prozess wie eine Grabplatte auf dem Alltag der Richter, erschlägt er den Alltag?

Ich habe das den Richter Götzl einmal gefragt, als ich ihn vor zwei Jahren bei einer privaten Geburtstagsfeier in einem Münchner Lokal getroffen habe. Er hat ebenso freundlich wie ausweichend geantwortet. Ein Richter will durch den öffentlichen Einblick in sein Gefühlsleben keinen Ablehnungsgrund liefern - schon gar nicht in so einem gewaltigen Prozess.

Richter Götzl hat den Prozess gut, er hat ihn sehr gut geführt - nach anfänglich eklatanten Schwächen, nach heftigen Stolpereien; das Bundesverfassungsgericht musste eingreifen. Götzl hatte bei der Vorbereitung des Prozesses Fehler gemacht; die Organisation von Öffentlichkeit in so einem Verfahren ist hochsensibel. Das Gericht hatte diese Sensibilität, die eine rechtliche und menschliche Feinfühligkeit ist, am Anfang nicht gehabt.

Ein Strafprozess ist dafür da, der Wahrheit möglichst nahe zu kommen - auf eine Weise, die die Rechte der Angeklagten wahrt, das Leid der Opfer achtet und die Rechtsregeln einhält. Ein gutes Urteil ist ein Ergebnis solcher Mühen.

Was ein Richter in so einem Prozess braucht: Geduld und Souveränität

Die "Befähigung zum Richteramt" erlangt man, so sagt das Gesetz, mit einem Studium des Rechts und zwei juristischen Staatsexamina. Die dabei erzielten Noten müssen, das steht nicht im Gesetz, recht gut sein. Es steht auch nicht im Gesetz, was ein Richter in einem spektakulären Strafprozess vor und neben allem Paragrafenwissen braucht: Geduld. Er braucht Geduld, gepaart mit sensibler Souveränität. Geduld bei aller Aufgeregtheit und unabhängig von der öffentlichen Meinung ist nicht eine Abart von Feigheit und Schwäche, sondern der Schlüssel zum Erfolg.

Das Gericht hat die Probe bestanden: Ablehnungsanträge, Anträge auf Aussetzung des Verfahrens, Anträge auf Verlegung der Verhandlung, Anträge auf Vernehmung von möglichen und unglaublichen Zeugen, Anträge und Scharmützel, Scharmützel und Anträge. Das alles gehört freilich zum Register, das den Prozessbeteiligten vom Gesetz zur Verfügung gestellt wird. Die Register dürfen gezogen werden.

Auch wenn der Kamm schwillt

Im späteren Stadium des Prozesses waren und sind es dann Beweisanträge, mit denen das Gericht von der Verteidigung, der Nebenklage, selten von der Staatsanwaltschaft, regelrecht bombardiert wird. Das Gericht muss sorgsam darüber befinden, auch wenn Prozessbeobachtern der Kamm schwillt, weil sie das alles für bloße Verzögerung halten. Ein erfahrener Richter weiß, dass sich Geduld lohnt und ein Verfahren sich einspielt.

Bei einem einzelnen Mord sind dreißig Verhandlungstage nichts Ungewöhnliches, jedenfalls dann nicht, wenn es kein Geständnis gibt. Im NSU-Verfahren wurde nun nicht ein einzelner Mord, es wurden zehn Morde verhandelt, begangen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten - plus zwei Bombenanschläge, plus 15 Raubüberfälle. Es gab kein Geständnis. Ein Indizienprozess musste hineinleuchten in den gewalttätigen Rechtsextremismus. Das verlangt Sorgfalt bis zum Schluss; die dafür notwendige Zeit ergibt sich schon nach Adam Riese. Eine Obergrenze für Verhandlungstage kann und darf es nicht geben.

Aufzuklären war eine monströse Serie von rassistischen Verbrechen

437 Prozesstage hat das alles gedauert, die langen Plädoyers der Bundesanwaltschaft, der Verteidiger und der vielen Nebenkläger inklusive. Der Tag der Urteilsverkündung ist nun der 438. Prozesstag. Ist das zu viel für die Wehen der Wahrheit? Ich denke nicht. Aufzuklären war eine monströse Serie von rassistischen Verbrechen, wie es sie in der Bundesrepublik nie zuvor gegeben hat. Das Gericht hat den Prozess mit kenntnisreicher Sorgfalt, rechtsstaatlicher Geduld und sensibler Souveränität geführt.

Das Gericht wird die Schuld der Angeklagten bemessen. Die Schuld des Verfassungsschutzes, die Schuld der Polizei, die Schuld der Politik - über sie wurde nicht verhandelt. Von dieser Schuld wird im Urteil des Oberlandesgerichts München nichts oder nur wenig stehen. Davon kann man in den Berichten der Untersuchungsausschüsse der Landtage und des Bundestages lesen. Es sind zum Teil exzellente, akribische Berichte. Die Berichte des Untersuchungsausschusses des Thüringer Landtags sind da an allererster Stelle zu nennen.

Zwei U-Ausschüsse hat es in Thüringen gegeben, zwei auch im Bundestag, zwei in Sachsen, zwei in Baden-Württemberg; in jeweils zwei Legislaturperioden haben die Abgeordneten in die Abgründe hineinzuleuchten versucht. Einen U-Ausschuss gab es in Hessen, in Brandenburg, in Bayern, in Nordrhein-Westfalen und in Mecklenburg-Vorpommern.

Ein Anlass zum Innehalten

Diese Untersuchungen, dieses große Hineinleuchten, hätte es zum Teil ohne die Erkenntnisse aus dem NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München nicht gegeben. Gewiss: Weder der Strafprozess noch die Untersuchungsausschüsse haben den Sumpf trockengelegt. Diese Aufgabe geht weiter - nach dem Urteil im NSU-Prozess, nach dem Ende der bisherigen Untersuchungsausschüsse. Sie ist wichtiger als so einiges, was der Politik derzeit wichtig erscheint. Womöglich ist es so, dass die Art und Weise, wie die Flüchtlingspolitik derzeit betrieben wird, kein Beitrag zur Entsumpfung ist, sondern zur Versumpfung.

Ich wünsche Ihnen eine gute Woche - und ich selber wünsche mir, dass das Urteil im NSU-Prozess für die Politik ein Anlass zum Innehalten ist.

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