Prantls Blick:Die Furien des Nationalismus sind wieder entfesselt

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In Deutschland trommelt die AfD gegen Europa - wie hier auf einer CDU-Wahlkampfveranstaltung in Sachsen. (Foto: dpa)

Es gärt in der EU: Die Anti-Europäer sammeln ihre Kräfte, die meisten Regierungen forcieren eine Abschottung des Kontinents - Hoffnung gibt die Zivilgesellschaft.

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In seiner Totenrede auf den früheren österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky hat Willy Brandt 1990 gesagt: "Seine Weltsicht und sein Mut zum Unvollendeten werden uns fehlen. Seine Welt war größer als sein Land." Die zwei Sätze klingen heute wie ein Stoßgebet. Man möchte um Politiker bitten, die größer sind als ihr Land, man möchte um Politiker bitten, die Weltsicht und Weitsicht haben.

Die Engsicht regiert nämlich nicht nur die Vereinigten Staaten, sie regiert so viele Länder, die "great again" werden wollen, indem sie sich klein machen und sich einkasteln oder, wie Katalonien, von Sezession träumen. Österreich gehört zu den Einkastler-Ländern. In diesem Land wurde an diesen Sonntag der Nationalrat gewählt. Tschechien gehört auch dazu. Hier wird am kommenden Freitag und Samstag das neue Abgeordnetenhaus gewählt. Es sieht so aus, als könnte der Rechts-Außen-Politiker Andrej Babiš mit seiner Protestpartei ANO eine Mehrheit erreichen.

ANO bedeutet "Ja" und steht für Akce Nespokojených Občanů, das heißt "Aktion der unzufriedenen Bürger". Andrey Babiš selbst ist eine Mischung aus Silvio Berlusconi, dem italienischen Ex-Regierungschef, und dem US-Präsidenten Donald Trump, denn es gehört ihm ein großer Teil der nationalen Medien, er hasst die "politische Korrektheit" und ist gegen Einwanderung; im Parteiprogramm steht, dass die Sicherung der nationalen Identität die höchste Priorität habe. Babiš wird vermutlich nicht die absolute Mehrheit erreichen. Doch neben seiner ANO-Partei gibt es noch weitere sogenannte rechtspopulistische Parteien, die viel Zustimmung erfahren. Babiš steht ein breites Angebot an Koalitionspartnern zur Verfügung, die ihm helfen werden, die Demokratie zu schwächen.

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Wie sagte Brandt über Kreisky: Er habe Weit- und Weltsicht gehabt. Europa braucht Weit- und Weltsicht - umso mehr in einer Zeit, in der die Chinesen zum Weltvolk des 21. Jahrhunderts aufsteigen. Am kommenden Mittwoch beginnt in Peking der Nationalkongress, der Parteitag der chinesischen KP - und stellt neue wirtschaftspolitische Weichen. Es ist schon jetzt so: Überall, wo man in der Welt so hinkommt, sind die Chinesen und ihr Renminbi schon da. Und da will Europa sich zum Taka-Tuka-Kontinent zurückentwickeln?

Europäische Einigkeit besteht vor allem im Wunsch nach Abriegelung

Ich habe Bruno Kreisky zu seinen Lebzeiten nicht kennenlernen dürfen, Willy Brandt habe ich in seinen letzten Lebensjahren bei einigen Veranstaltungen moderiert - die letzte dieser Veranstaltung handelte von Migration, handelte von Flüchtlingen; der Titel dieser Veranstaltung in der Duisburger Mercatorhalle war "Fluchtburg oder Festung Europa". Das war am 6. Mai 1991. Brandt sagte in seiner Einführungsrede, ich habe es in der Broschüre noch einmal nachgelesen, die über die Veranstaltung erschienen ist: "Mit nationalen Alleingängen sind die Probleme der Armutswanderung ebenso wenig zu bewältigen wie mit kurzatmigen EG-weiten Abschottungsmaßnahmen. Vielmehr sollten die EG-Staaten - auch um eine Aushöhlung des Asylrechts zu verhindern - eine gemeinsame Einwanderungspolitik entwerfen. Was auf der Tagesordnung steht, ist die Schaffung einer gesamteuropäischen Einheit, die nationale Engstirnigkeiten überwindet. Kontinentales oder globales Denken zur Problematik von Flucht- und Massenwanderung muss letztlich, das ist ganz sicher, durch lokales Handeln unter Beweis gestellt werden. Aufnahmebereitschaft und multikulturelles Zusammenleben wollen mühsam erlernt sein - was allerorten schmerzliche Erfahrungen einschließt."

So Brandt im Mai 1991, vor 26 Jahren; im Jahr darauf ist er gestorben. Was haben wir gelernt, was haben wir geschafft seitdem? Brandts Sätze von 1991 haben 2017 nichts von ihrer Aktualität eigebüßt. Soll man sich über Brandts visionären Blick freuen - oder soll man sich darüber grämen, wie viel Zeit die Politik verloren hat? Die von Brandt beschworene europäische Einigkeit in Flüchtlingsfragen besteht derzeit vor allem darin, dass die Abriegelung des Kontinents endlich gelingen müsse - um so angeblich Europa zu erhalten. Ich glaube, dass man das 21. Jahrhundert einmal daran messen wird, wie es mit den Flüchtlingen umgegangen ist. Man wird es daran messen, was es getan hat, um Staaten im Chaos wieder zu entchaotisieren. Man wird es daran messen, welche Anstrengungen unternommen wurden, um entheimateten Menschen wieder eine Heimat zu geben - und daran, was getan worden ist, um das Miteinander der Religionen und Kulturen zu fördern.

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Die Anti-Europäer sammeln ihre Kräfte. Der Brexit in Großbritannien basierte auf einer Kampagne, die der Europäischen Union die Schuld an der Einwanderung gab und den Ausländern die Schuld an sämtlichen Missständen. In Deutschland trommelt die AfD gegen Europa. In Österreich gibt es antieuropäisches Potenzial zuhauf, und dort, wo es sich, wie bei Sebastian Kurz von der ÖVP, europäisch geriert, ist es rassistisch. In Frankreich ist die Le-Pen-Gefahr noch lange nicht vorbei. In Italien sind die Fünf-Sterne-Bewegung und die Lega Nord manifest antieuropäisch. Im Ungarn des Viktor Orbán sind die proeuropäischen Kräfte derzeit ohne jede Chance. Polen wird prononciert nationalistisch regiert, in Tschechien plustern sich, wie gesagt, nationalistisch-narzisstische Parteien.

Das junge alte Europa ist bedroht wie nie in seiner jüngeren Geschichte. Es wird bedroht nicht nur von den Wahnsinnigen des sogenannten Islamischen Staats. Die große Gefahr ist der Wahn von innen. Die große Gefahr sind die neuen alten Nationalismen, die aus diesem Wissen um die Bedrohung entstanden sind. Sie wollen aus dem neuen Europa wieder das alte machen, es wieder zerstückeln und diese Stücke bewachen. Sie betrachten Europa als parzellierte Landkarte und stecken in die Felder ihre Fahnen und Namensschilder. "Take back control", nennen sie das. Es gärt in Europa. Das bedeutendste Projekt der neuzeitlichen europäischen Geschichte steht auf dem Spiel. Die Furien des Nationalismus sind wieder entfesselt.

Gewiss: Dieses Europa hat die Nationen und ihre Menschen vor einem wildgewordenen Kapitalismus nicht geschützt, sondern sie ihm ausgeliefert; auch das erklärt den Zulauf, den die Anti-Europäer haben. Viele Menschen haben den Niedergang ihrer kleinen sozialen Welt erlebt, den Verfall ihrer Städte, das Wegbrechen der sozialen Sicherheit. Die dramatische Jugendarbeitslosigkeit in den europäischen Südstaaten ist eine Katastrophe. Das alles beschreibt die Irrwege und Abgründe europäischer Politik.

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Aber trotz alledem: Europa ist etwas anderes als die Summe seiner Fehler. Das Europa, das aus dieser Union werden kann, ist der letzte Sinn einer unendlich verworrenen europäischen Geschichte. Doch es wird nur dann funktionieren, wenn aus einem Binnenmarkt ein wirkliches Gemeinwesen wird; ein Gemeinwesen also, in dem die Interessen der Bürger nicht Abschreibungsmasse sind. Wenn die Bürger so behandelt werden, schreiben sie Europa ab. Die Menschen in Europa wollen spüren, dass diese EU für sie da ist und nicht zuvorderst für Banken und den internationalen Handel. Sie wollen unter Sicherheit nicht nur die innere, sondern auch die soziale Sicherheit verstanden wissen.

Ich wünsche mir hier eine Politik des "Wir schaffen das". Angela Merkel hat dies vor zwei Jahren im Hinblick auf die Flüchtlinge gesagt. Ihre Politik hat den Satz nicht eingelöst. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Politik für die Flüchtlinge und der Politik für die ansässigen Bürgerinnen und Bürger. Ein "Wir schaffen das" bei der Integration von Flüchtlingen gelingt nur, wenn sich die Menschen, die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land beheimatet und geschützt fühlen. Jeder zehnte Deutsche engagiert sich ehrenamtlich für Flüchtlinge. Das ist außergewöhnlich; das ist spektakulär. Das kommt im politischen Alltag viel zu kurz; der ist derzeit fixiert auf die AfD. Es wird zu wenig geredet, geschrieben und gesendet von denen, die nicht angebliche Tabus brechen. Es gibt Zigtausende von Menschen in Deutschland, die den Flüchtlingen helfen beim Deutschlernen, beim Umgang mit den Behörden, beim Fußfassen in diesem Land. Sie handeln, wie sie selbst, wären sie Flüchtlinge, behandelt werden wollten. Das ist Mikropolitik, aber ohne diese Mikropolitik bleibt alles Reden von Integration Gerede.

Zivilgesellschaftliches Handeln ist die Addierung und die Potenzierung von Mikropolitik. Diese Mikropolitik hat daher, wenn es gut geht, nicht nur die Kraft, einzelne Leben zu ändern und einzelne Schicksale zu verbessern; sie hat auch die Kraft, die Makropolitik Europas zu verändern, sie nämlich so zu verbessern, dass sie ihre nationalen Egoismen aufgibt. Das ist die Hoffnung, die ich habe in Zeiten, in denen die nationalistischen Töne wieder so laut werden.

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