Präsidentschaftswahl in der Türkei:Angst vor Erdoğans neuer Macht

Recep Tayyip Erdogan

Erdoğan feiert seinen Wahlsieg mit Tausenden Anhängern vor der AKP-Zentrale in Ankara.

(Foto: AFP)

Mit absoluter Mehrheit haben die Türken ihn zum Präsidenten gewählt. Anders als bei früheren Wahlsiegen schlägt Erdoğan jetzt moderate Töne an. Doch seine Kritiker fürchten, dass er seine Macht ausbauen und den Posten des Premiers mit einem treuen Gefolgsmann besetzen wird.

Von Luisa Seeling

Kurz nachdem sein Wahlsieg feststand, hat sich Recep Tayyip Erdoğan in einer für ihn ungewohnten Rolle präsentiert: der des Versöhners. Der Gewinner der Präsidentschaftswahl schlägt friedvolle Töne an, als er am Abend um kurz nach 23 Uhr auf dem Balkon der AKP-Zentrale in der Hauptstadt Ankara erscheint: "Heute hat nicht nur Recep Tayyip Erdoğan gewonnen", sagt er. "Heute hat der Wille des Volkes einmal mehr gesiegt. Heute hat die Demokratie einmal mehr gesiegt."

Als erster Präsident ist Erdoğan vom türkischen Volk direkt gewählt worden. Er hat das Amt im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit errungen. Sein wichtigster Konkurrent, Ekmeleddin İhsanoğlu, kam auf 38,3 Prozent, der Kandidat der kurdischen Minderheit, Selahattin Demirtaş, erhielt 9,7 Prozent.

Erdoğan schlägt moderatere Töne an

Erdoğan kündigt einen "neuen sozialen Versöhnungsprozess" an. Alle Türken, ganz gleich welcher Herkunft und welchen Glaubens, sollten gleichberechtigte Bürger sein. "Ich möchte ein Präsident sein, der mit ganzem Herzen 77 Millionen Menschen umarmt, so wie ich es mein ganzes Leben lang und während meines gesamten politischen Kampfes getan habe." Er danke allen Bürgern, ob sie ihn gewählt hätten oder nicht, die dazu beigetragen hätten, Geschichte zu schreiben.

Der 60-Jährige sendet auch eine Botschaft an seine Feinde: Die, die ihn als "Diktator" bezeichneten, sollten sich selbst in Frage stellen. Die Opposition solle ihre Politik überdenken, um sie mit dem Ideal einer neuen Türkei in Einklang zu bringen. "Diejenigen, die uns einer Ein-Mann-Herrschaft beschuldigen, sollten sich bitte selbst ernsthaft hinterfragen." Ein Seitenhieb gegen seine Kritiker - der erstaunlich moderat klingt im Vergleich zu dem, was Erdoğan noch am Abend der Kommunalwahlen im März gesagt hatte. Damals hatte er nach dem Sieg seiner Partei seinen Gegnern gedroht, sie würden "einen Preis zahlen"; man werde die "Verräter" bis in "ihre Höhlen" verfolgen.

Präsidialsystem für die Türkei

Am Tag nach der Wahl stellt sich die Frage: Will und kann Erdoğan ein Versöhner sein? Einer, der gesellschaftliche Gräben überwindet, anstatt sie zu vertiefen? Viel wird davon abhängen, wie er sein neues Amt - die Einführung ist für den 28. August geplant - interpretiert. Bisherige Präsidenten haben es weitgehend repräsentativ ausgelegt, ihre Befugnisse waren begrenzt.

Erdoğan hatte aber schon vor der Wahl deutlich gemacht, dass er ein präsidiales System anstrebt. "Ein Präsident, der direkt vom Volk gewählt wird, kann nicht wie seine Vorgänger sein", sagte er. "Sollte ich gewählt werden, werde ich von allen Rechten Gebrauch machen." Er werde kein Präsident für das Protokoll sein, auch "kein überparteilicher Präsident".

Beobachter gehen davon aus, dass Erdoğan das Amt zu seinen Gunsten umbauen wird, um aktiv in der Regierungsarbeit mitmischen zu können. Noch fehlt ihm für derartige Verfassungsänderungen die nötige parlamentarische Zweidrittelmehrheit*. Das aber könnte sich nach den nächsten Parlamentswahlen ändern, die spätestens im Sommer 2015, womöglich aber auch früher stattfinden.

Keine Gegengewichte zu einem allmächtigen Präsidenten

Viele fürchten, dass der Umbau zum Präsidialsystem eine weitere Einschränkung demokratischer Rechte bringen wird. Yusuf Kanli, Kolumnist der englischsprachigen Ausgabe der Zeitung Hürriyet, warnt: "Die Atmosphäre der Angst, die in dem Land im vergangenen Jahrzehnt entstanden ist, wird gefestigt." Erdoğan werde versuchen, Entscheidungen und Gesetze im Alleingang durchzusetzen. Anders als im präsidentiellen System der USA gebe es in der Türkei keine "checks and balances", keine institutionellen Gegengewichte zu einem allmächtigen Präsidenten.

Mehmet Ali Şahin von der Zeitung Radikal vermutet, Erdoğan wolle die meisten seiner engsten Berater ins Präsidentenbüro mitnehmen. Schon bisher, so der Journalist, habe Erdoğan das Land mehr mithilfe von Vertrauten und Beratern als durch Kabinettsminister regiert. Alles deute darauf hin, dass er diesen Stil als Präsident beibehalten werde.

Spekulationen über Erdoğans Nachfolger als Premier

Wie Erdoğan regieren wird, wird auch davon abhängen, wer ihm ins Amt des Ministerpräsidenten nachfolgt. Zudem muss er den AKP-Parteivorsitz abgeben, wenn er offiziell von der Wahlkommission zum designierten Präsidenten ernannt wird - so will es die Verfassung. Erwartet wird, dass Erdoğan die frei werdenden Posten mit Gefolgsleuten besetzt. Die AKP-Spitze will türkischen Medien zufolge am Montag über Personalien beraten.

Die Nachrichtenseite Today's Zaman zitiert Berichte, wonach Erdoğan seinen bisherigen Außenminister Ahmet Davutoğlu zum Premier machen will. Dieser ist zwar umstritten in den eigenen Reihen, weil ihm Versagen in der Außenpolitik des Landes vorgeworfen wird - doch er gilt als loyaler Weggefährte Erdoğans, der sich nach dessen Vorgaben richten würde, und deshalb als aussichtsreichster Kandidat. Auch der Name von Vize-Premier Bülent Arınç wird häufiger genannt.

Zunächst war Abdullah Gül, der bisherige Präsident, als möglicher Nachfolger gehandelt worden. Doch dann war er auf Distanz gegangen, nachdem Erdoğan eine Twitter-Sperre durchgesetzt hatte. Seither werden ihm keine großen Chancen mehr auf das Amt des Premiers eingeräumt.

* Anmerkung der Redaktion: Verfassungsänderungen regelt Artikel 175 der aktuellen Verfassung der Türkei. Über jeden Artikel muss im Parlament einzeln abgestimmt werden. Für eine direkte Änderung ist eine 2/3-Mehrheit nötig (367 Stimmen); liegt die Zahl der Ja-Stimmen zwischen 330 (3/5) und 367, dann wird ein Referendum angesetzt. Erreicht ein Artikel weniger als 3/5 der Stimmen im Parlament, bleibt er unverändert.

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