Porträt:Ein Konservativer in Rot

Er gilt als Star unter den Juristen in Karlsruhe, und seine Werte entstammen einem rigidem Weltbild. Warum Verfassungsrichter Udo Di Fabio der Mann ist, der über die Neuwahl entscheiden könnte.

Von Helmut Kerscher

Der Herr mit dem Drei-Tage-Bart und dem schönen Namen Di Fabio ordert ohne Zögern "Penne mit Ratatouille und frischem Parmesan", das einzige irgendwie italienische Angebot auf der Tageskarte des Terrassen-Cafés.

Natürlich, so mag man denken, bei diesem Namen, bei dieser Herkunft! Doch damit hat seine Bestellung gewiss nichts zu tun. Der 51-jährige Udo Di Fabio wird zwar seit seinem Amtsantritt im Dezember 1999 gern als "erstes Gastarbeiterkind im Bundesverfassungsgericht" gehandelt, zeigt sich aber auf seine angenehme, offene Art an Geschichten über seine Abstammung nicht sonderlich interessiert.

Klar, sein Großvater zog vor 1920 als Nachkomme verarmter Landadeliger aus den Abruzzen nach Duisburg und wurde Stahlarbeiter bei Thyssen, doch schon der Vater fühlte sich als Deutscher, und der erfolgreiche Enkel tut dies erst recht, der kann gar nicht italienisch.

Hat Di Fabio vielleicht im Verlauf seines einzigartigen Aufstiegs, der das Arbeiterkind auf dem zweiten Bildungsweg vom Stadthauptsekretär in Dinslaken zum doppelten Doktor (Jura und Soziologie), zum Professor und Verfassungsrichter führte, die Familie etwas aus den Augen verloren?

Im Gegenteil: Familie und Ehe gehören zu den zentralen Werten dieses sehr "werteoffensiven Richters", wie ihn einmal einer genannt hat. Werte also hält er hoch, Werte wie die "Kultur der Freiheit" (so der Titel seines nächsten, äußerst meinungsstarken Buchs), die Leistung, Staat und Nation, die Religion und die Ehre.

Lieber im Gewusel der Familie

Aber bei der Familie interessiert sich Di Fabio nur für die "Familie auf Sicht", also für diejenigen, die er kannte und kennt, nicht für irgendwelche Ahnen. So spricht der Jüngste einer Drei-Kinder-Familie gern von der Mutter und dem Vater, der erst 1949 aus russischer Gefangenschaft heimkehrte - und ihm zum dritten Geburtstag diesen herrlichen roten Roller schenkte.

Er schwärmt von seiner Kindheit im Ruhrgebiet der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre. Und noch begeisterter erzählt er von seiner zwölf Jahre jüngeren Frau und den vier Kindern zwischen "17 Monaten" und "zehneinhalb Jahren". Mit den Altersangaben nimmt er es sehr genau.

Er sei "zwar ein Konservativer, als Vater aber eher modern", wozu das Windelwechseln und manchmal das Alleinsein mit den Kindern gehöre, erzählt Di Fabio.

So oft es geht, und es geht oft, fährt er von Karlsruhe zu ihnen nach Bonn, wo er freitags eine gut besuchte Vorlesung hält; er arbeitet lieber im Gewusel der Familie als in seinem ruhig gelegenen Arbeitszimmer im Verfassungsgericht, aus dessen Alltagsbetrieb er sich heraus hält.

Ist das alles wirklich von Belang bei der Betrachtung eines Mannes, der doch deshalb in das Scheinwerferlicht geraten ist, weil bei ihm derzeit, wie magnetisch angezogen, fast alle wichtigen Verfassungsprozesse landen?

Auf seinem Schreibtisch werden Ende Juli auch die Klagen gegen eine Neuwahl landen - wenn der Bundespräsident zugestimmt hat. Nicht unbedingt zur Freude des restlichen Gerichts gilt er als neuer Star, als ein konservativ prägender Verfassungsrichter wie sein Vorgänger Paul Kirchhof.

Sollte man sich bei einem so wirk- und wortmächtigen Mann nicht auf seine Entscheidungen konzentrieren sowie auf die ellenlange Liste seiner Bücher, seiner Beiträge in der Fachliteratur und auf seine Reden, statt sich in persönlichen Dingen zu verlieren?

Di Fabio, der eigentlich viel lieber über abstrakte Fragen wie "die Freiheit des sich bindenden Souveräns" oder "die kulturelle Prägung, wofür wir Freiheit einsetzen" spricht als über sich selbst, gibt irgendwann selbst die Antwort: "Wir reden zu viel über Systeme", sagt der Schüler des großen Systemtheoretikers Niklas Luhmann, "und zu wenig über die Bedeutung von Persönlichkeiten für die Entwicklung eines Menschen".

Und im Lauf des Gesprächs, das er in eine Beratungspause des Zweiten Senats gelegt hat, nennt er Persönlichkeiten, die ihn geprägt haben: Den Philosophen und Soziologen Luhmann natürlich, der seine zweite Dissertation mitbetreut hat, seinen "akademischen Lehrer" Fritz Ossenbühl, der die juristische Karriere begleitet hat, - und seinen langjährigen katholischen Pfarrer, eine "Art Don Camillo des Ruhrgebiets". Dessen "donnernde, mitreißende Predigten" hätten ihn stark beeindruckt, sagt Di Fabio.

"Der Luhmann hat mich davon abgebracht."

Das meint er übrigens keineswegs inhaltlich, denn das Donnern dieses "Don Camillos" gegen die sozialdemokratische Orientierung seiner Schäfchen blieb beim kurzzeitigen Ministranten politisch wirkungslos. Er habe, man glaubt es kaum, lange mit der linken Herrschaftskritik sympathisiert, sagt er, aber: "Der Luhmann hat mich davon abgebracht. Mit ihm konnte es kein Theoretiker der politischen Linken aufnehmen."

Heute wird Di Fabio manchmal als erzkonservativ und neoliberal bezeichnet. Diese Schubladen gefallen ihm nicht (wie es ohnehin selten irgendeine Schublade gibt, in der sich irgendein Verfassungsrichter zutreffend eingeordnet fühlen würde).

Nach seiner eigenen Einschätzung steht er parteilos "zwischen den drei großen Richtungen": Vom Konservatismus habe er den Respekt vor Institutionen, vor Ehe, Familie, Staat und auch vor den Medien; von der Sozialdemokratie das Eintreten für die Chancengleichheit; und von den Liberalen die Betonung von Leistungsanreizen, von Wettbewerb und Markt.

Was folgt aus allem beispielsweise für seine Meinung zur Globalisierung? "Die muss sein, das gehört zu einer offenen Republik", sagt er. Zur nationalstaatlichen Identität gehöre aber auch "eine selbstbewusste und kluge Politik der Standortsicherung, wie sie die Franzosen betreiben".

Die Deutschen sollten zum Beispiel an die enorme wirtschaftliche Bedeutung ihrer Autoindustrie denken. Aktuellen umweltpolitischen Forderungen steht Di Fabio, der unmittelbar vor seiner Karlsruher Zeit als Gutachter für die Stromindustrie tätig war, aus ökonomischen Gründen sehr skeptisch gegenüber.

Er stellt dann "Prioritäten der staatlichen Steuerung" in Frage und warnt vor der "Gefahr, dass der Umweltschutz politische Strukturen geschaffen hat, die immer weitere Forderungen nach sich ziehen".

Di Fabio bezweifelt die staatliche Steuerung auch bei den sozialen Sicherungssystemen. Müsse es wirklich eine gesetzliche Arbeitslosenversicherung statt einer privaten geben? Und was bringe eigentlich die teure staatliche Arbeitsverwaltung? "Ist das nicht ein Markt?", fragt er.

Markt, Leistung, Wettbewerb, Freiheit, Fleiß, Erfolg - das zählt. Und was ist mit den weniger Leistungsfähigen? Bei diesem Einwand wirkt Di Fabio ein einziges Mal irritiert, um dann entschlossen zu antworten: "Der Mensch schafft fast alles, wenn er glaubt, alles schaffen zu können."

Natürlich, den Hilfebedürftigen müsse geholfen werden, aber vor allem müsse an den Leistungswillen appelliert werden, damit "jeder nach seinen Fähigkeiten hart und mit Freude arbeitet" - so wie in den "Goldenen Fünfzigern".

Und heute? Di Fabio diagnostiziert "Orientierungslosigkeit", "Bindungslosigkeit" und "fehlende Grenzsetzungen in der Erziehung", zum Beispiel beim Fernsehkonsum von Kindern.

Er propagiert den "freien, sittlich und vernünftig gebundenen Menschen" mit Mut zu Ehe und Familie, möglichst mit drei Kindern. Wenn der Staat keinen ausreichenden Abstand wahre zwischen diesen Institutionen und anderen Lebensgemeinschaften, nichtehelichen oder gar gleichgeschlechtlichen, missachte er den "Anspruch auf Abgrenzung".

Er verteidigt die Bürgerlichkeit und greift das Gedankengut der Achtundsechziger an. Und das klare Weltbild dieses "Wertepredigers", wie ihn ein Konservativer nennt, findet sich nicht nur in seinen Veröffentlichungen.

Gelegentlich erkennt man es auch in "abweichenden Meinungen", die er stets gemeinsam mit dem Kollegen Rudolf Mellinghoff und zweimal mit Hans-Joachim Jentsch geschrieben hat, beide CDU-Mitglieder; das Kopftuch-Urteil und der Beschluss zur Haftung der CDU für falsche Rechenschaftsberichte gehören dazu.

Äußerst selbstgewiss, präzise, hart und manchmal polarisierend

Umgekehrt stammen "abweichende Meinungen" zu Urteilen, bei denen Di Fabio zur Mehrheit gehörte, häufig von Senatsmitgliedern, die von der SPD vorgeschlagen wurden, wie die Professorinnen Gertrude Lübbe-Wolff und Lerke Osterloh oder der Ex-Bundesverwaltungsrichter Michael Gerhardt.

So war es beispielsweise bei den Urteilen gegen das Zuwanderungsgesetz oder zur Zusammensetzung des Vermittlungsausschusses. Mehrmals gab in solchen Fällen auch der von der Union vorgeschlagene Richter Siegfried Broß abweichende Meinungen zu Protokoll, etwa bei der Einstellung des NPD-Verbotsverfahrens - Di Fabio wollte es haben - oder beim Urteil zur nachträglichen Sicherungsverwahrung.

Jeder kann also nachlesen, dass es bei politisch heiklen Prozessen wechselnde Mehrheiten im Zweiten Senat gegeben hat. Es kann da im Beratungszimmer, ungeachtet der allseitigen Beschwörung des Diskurs-Gedankens, nicht immer sehr harmonisch zugegangen sein - zumal gerade Di Fabio bei aller Verbindlichkeit als äußerst selbstgewiss, präzise, hart und manchmal polarisierend gilt.

Wer ihn aber wegen seines pointierten Konservativismus für berechenbar oder gar der Union zurechenbar hält, die ihn als Richter vorgeschlagen hat, der macht es sich zu einfach.

So nahm Di Fabio in der Verhandlung über den Europäischen Haftbefehl, der eine Auslieferung Deutscher ohne Umstände ermöglicht, den CDU-Bundestagsabgeordneten Siegfried Kauder nicht weniger heftig ins Verhör als den Grünen-Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, jeweils zum gelinden Entsetzen des Vorsitzenden Winfried Hassemer.

Und im Jahr 1997, zwei Jahre vor seiner Berufung zum Richter, vertrat er die SPD-Bundestagsfraktion, die in Karlsruhe die Ladung von Kanzler Helmut Kohl vor den Plutonium-Untersuchungsausschuss erstreiten wollte.

Acht Stimmen für ein Urteil

Die SPD-Rechtspolitiker hatten sich damals an seine Doktorarbeit über "Rechtsschutz im parlamentarischen Untersuchungsverfahren" erinnert, die 1989 mit dem Förderpreis des Bundestags ausgezeichnet worden war.

Der Abgeordnete Hermann Bachmaier denkt noch heute gern an die "fachlich und menschlich hervorragende Zusammenarbeit" mit Di Fabio, der gerade in München den Lehrstuhl des berühmten Peter Lerche übernommen hatte. Noch im selben Jahr wurde übrigens Di Fabios Zimmernachbar Hans-Jürgen Papier zum Verfassungsrichter gewählt, mit dem ihn viele Grundüberzeugungen verbinden, auch die Kritik an einer allzu mächtigen EU. Von Di Fabio wird man wohl am Montag einiges dazu hören, wenn das Gericht sein Urteil zum Europäischen Haftbefehl verkündet.

Das öffentliche Interesse hat sich allerdings auf den erwarteten Prozess gegen eine Neuwahl des Bundestags verlagert. Di Fabio soll dann als "Berichterstatter" zuständig sein - neben sich sieben Senatsmitglieder mit einer eigenen vorläufigen Meinung zur Vertrauensfrage von Kanzler Schröder. Gewiss ist derzeit nur: Bei Stimmengleichheit wären die Klagen abgelehnt, so will es das Gesetz.

Ein Ja des Bundespräsidenten zur Neuwahl könnte also nur gekippt werden, wenn fünf der acht Richterinnen und Richter gegen Köhler stimmten. Einerseits ist das eine sehr hohe Hürde, andererseits wäre ein 5:3 keine Besonderheit in diesem Gericht. Es könnte genau auf Di Fabios Stimme ankommen.

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