Ausschreitungen in Istanbul:Polizisten gehen rabiat gegen Anwälte vor

Nachdem 49 Anwälte von Polizisten im Gezi-Park gewaltsam überwältigt wurden, demonstrieren jetzt mehr als 100 Kollegen für ihre Freilassung. Wieder geht die Polizei hart gegen Regierungskritiker vor, während Premier Erdogan vom "Ende der Toleranz" spricht.

Von Matthias Kolb und Jana Stegemann

Am zwölften Tag der regierungskritischen Proteste in der Türkei hat die Polizei den Taksim-Platz in Istanbul gestürmt. Es kommen Wasserwerfer und Tränengas zum Einsatz. Nach Einschätzung von Beobachtern waren es Provokateure, die Steine und Molotowcocktails warfen. Premier Erdogan dankt der Polizei für ihren Einsatz und fordert die Demonstranten auf, den Gezi-Park zu verlassen. Die Polizei bricht wenig später ihr Versprechen und geht mit Tränengas gegen die Parkbesetzer vor - wird jedoch friedlich zurückgedrängt. Wenig später werden 49 Anwälte verhaftet. Die aktuellen Entwicklungen im Newsblog.

  • 49 Anwälte verhaftet: Im Rahmen der Proteste auf dem Taksim-Platz sind in Istanbul mindestens 49 Anwälte verhaftet worden. Laut einem Bericht der türkischen Zeitung Hürriyet haben sich mitterweile mehr als 100 Anwälte vor der Polizeistation der Stadt versammelt und fordern die Freilassung ihrer Kollegen. Es soll zu Tumulten gekommen sein. Gegenüber dem britischen Guardian sagte eine der protestierenden Anwältinnen: "Wir wollten eine Pressekonferenz auf dem Gezi-Park vorbereiten, plötzlich kam die Polizei. In brutaler Art und Weise haben sie 49 meiner Kollegen festgenommen. Einige der Anwälte lagen am Boden und die Beamten kickten mit den Füssen gegen ihre Köpfe."
Demonstration in Istanbul

Die Polizei geht rücksichtslos gegen die Demonstranten auf dem Taksim-Platz vor, die sich hinter Schilden vor den Wasserwerfern in Deckung bringen

(Foto: dpa)
  • Politiker diskutieren über EU-Beitritt der Türkei: Die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen forderte einen Stopp der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei. Voraussetzung dafür müssten Fortschritte im Bereich Menschenrechte sein, so Dagdelen. Der Außenpolitikexperte der Unionsfraktion, Philipp Mißfelder (CDU), sagte, er sehe derzeit geringe Chancen für Gespräche über die europäische Zukunft. "Dieser Zug ist erst einmal abgefahren." Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, sagte, der Türkei dürfe jetzt keinesfalls die europäische Perspektive verschlossen werden. Voraussetzung sei aber die Einhaltung der Menschenrechte. Die irische EU-Ratspräsidentschaft erklärte in Brüssel, noch in diesem Monat solle ein neues Verhandlungskapitel in den Beitrittsgesprächen eröffnet werden. Die Türkei führt bereits seit 2005 Verhandlungen mit der EU, die Gespräche kommen jedoch kaum voran.
  • Polizei dringt in Gezi-Park ein: SZ-Korrespondentin Christiane Schlötzer berichtet, dass die Polizei jetzt ihr Versprechen - die Demonstranten im Gezi-Park in Ruhe zu lassen - gebrochen hat. Es werde offenbar mit Tränengas gegen die Parkbesetzer vorgegangen, so Schlötzer. Die Polizei sei gegen 13 Uhr in den Gezi-Park eingedrungen. Trotzdem scheint die Lage nicht so ernst wie auf dem Taksim-Platz. "Die Übermacht der Demonstranten hat die Polizei inzwischen wieder vertrieben - friedlich", sagt Schlötzer. Auf Bildern in sozialen Netzwerken ist zu sehen, dass die Demonstranten Menschenketten im Gezi-Park bildeten.
  • Polizei stürmt Taksim-Platz: Es ist der zwölfte Tag der regierungskritischen Proteste. Am Morgen rücken Dutzende türkische Polizisten auf den Taksim-Platz im Zentrum Istanbuls vor und entfernen Barrikaden. Als die Einsatzkräfte aus dem Stadtteil Beşiktaş auf den Platz kommen, hatten sich dort nur noch einige Tausend Demonstranten aufgehalten. Die von Panzerwagen unterstützen Sicherheitskräfte setzen Tränengas und Wasserwerfer ein, einige Jugendliche werfen nach übereinstimmenden Medienangaben Molotowcocktails und Steine. Auf SZ-Korrespondentin Christiane Schlötzer, die sich in Istanbul befindet, wirken diese Teenager "wie bestellt". Sie schreibt: "In den Gezi-Park, wo Hunderte Zelte stehen, selbst geht die Polizei nicht rein, auf dem Taksim aber spielen sie Bürgerkrieg."
  • Gouverneur: Es geht uns nicht um Gezi-Park: Via Twitter hatte Istanbuls Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu zuvor erklärt, dass die Protestierenden auf dem Gelände des Gezi-Parks nicht gestört werden sollen - sie sollten sich viel mehr von den Protestierenden fernhalten. Mehrere Hundert Demonstranten harren dort in Zelten aus. Als Ziel nannte Gouverneur Mutlu, alle Schilder vom Taksim-Platz und dem Atatürk-Kulturzentrum (Hintergründe zu dessen Symbolik) zu entfernen. "Wir werden weder den Gezi-Park und Taksim-Platz noch Euch anrühren", versicherte Mutlu. Später bedankte er sich in einem weiteren Tweet, dass die Leute im Gezi-Park ruhig auf jene Gruppen reagiert hätten, die sie provozieren wollten. CNN berichtet, dass die Polizisten über Lautsprecher verkündeten: "Seht her, wir kommen nicht in den Gezi-Park."
  • Demonstranten bilden Menschenkette um Gezi-Park: Die Protestierenden, die seit Tagen im Gezi-Park ausharren, haben friedfertig auf den Einsatz der Polizei reagiert. Sie bildeten eine Menschenkette um den Park und einige stellten sich zwischen die Sicherheitskräfte und die Steine-Werfer auf dem Taksim-Platz. SZ-Korrespondentin Christiane Schlötzer berichtet, sie habe zahlreiche E-Mails erhalten, in denen Mitglieder von Occupygezi versichern, dass sie nichts mit diesem "Theater" zu tun hätten. "Sie wollen diese Störer nun anhand von Fotos entlarven", sagt Schlötzer. Mehrere Provokateure seien mit Fahnen, die PKK-Chef Öcalan oder linksextreme Motive zeigten, auf die Wasserwerfer zugelaufen. "Viele dieser marginalisierten Splittergruppen sind mit Geheimdienstagenten stark durchsetzt, das weiß hier jeder." Beweise gebe es allerdings nicht.
  • Erdoğan verlangt Rückzug der Gezi-Park-Besetzer: Vor Abgeordneten seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP in Ankara dankt der umstrittene Ministerpräsident der Polizeiführung. "Das Ende der Toleranz" sei nun erreicht, erklärt er und sagt laut AFP: "Diese Episode ist nun vorbei." Den Demonstranten wirft er vor laufenden Kameras "Vandalismus" und erhebliche Zerstörungen bei den Protesten in den vergangenen zwei Wochen vor. Der Gezi-Park sei eine Grünanlage und "keine Besatzungszone", deshalb sollten sich die Protestierenden zurückziehen. Es werde versucht, die Türkei wirtschaftlich in die Knie zu zwingen und Investoren einzuschüchtern. In diesem Kontext kritisiert er die Berichterstattung internationaler Medien. Der 58-Jährige sagt, dass bei den Protesten bisher vier Menschen gestorben seien: drei junge Demonstranten und ein Polizist. Die Zahl der Verletzten beziffert er auf etwa 5000. Nach Einschätzung einiger Twitterer schlägt Erdogan an diesem Dienstag im Vergleich zu seinen vergangenen Auftritten einen "ruhigeren Ton" an. In der Sache scheint er weiter hart zu bleiben.
  • Erdoğans geplantes Treffen mit Demonstranten: Der Einsatz auf dem symbolisch bedeutsamen Taksim-Platz folgt auf ein kleines Zeichen zur Versöhnung. Am Montag hatte Vizepremier Bülent Arınç erklärt, dass sich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan am Mittwoch mit "einigen führenden Vertretern" der Occupygezi-Bewegung treffen werde. Viele der Protestierenden werfen dem 59-jährigen AKP-Politiker Arroganz sowie einen selbstherrlichen und undemokratischen Führungsstil vor - und Erdoğan hatte seine Kritiker bisher als "Gesindel" (çapulcular) bezeichnet. Ob die Gespräche nun gefährdet sind, wie es BBC-Korrespondent Mark Lowen angesichts des "gut überlegten" Einsatzes der Polizei vermutet, bleibt abzuwarten.
  • Gewalt auch in Ankara: Wie in vielen anderen türkischen Städten wird seit Tagen auch in der Hauptstadt Ankara gegen Erdoğan protestiert. Tausende kritisierten am Montagabend dessen Regierung und die ihrer Meinung nach unverhältnismäßige Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten. In der Nacht wurde die Menge dann von den Sicherheitskräften mit Tränengas auseinandergetrieben. Der Großteil der Demonstranten ergriff daraufhin die Flucht, Restaurantbesitzer schlossen sich und ihre Gäste in ihren Lokalen ein.
  • Präsident Gül unterzeichnet umstrittenes Alkoholverbot: Abdullah Gül hat derweil das umstrittene Gesetz zur Verschärfung der Regeln für den Alkoholverkauf gebilligt. Laut Präsidialamt wurde das Gesetz an den Ministerpräsidenten zur Veröffentlichung, mit der es dann in Kraft tritt, weitergeleitet. Das Gesetz wird von den Demonstranten kritisiert: Sie sehen es als einen Beleg für eine ihrer Ansicht nach von Erdoğan betriebene Islamisierung der Türkei - und als Bevormundung ihrer persönlichen Freiheit. Künftig herrscht zwischen 22 Uhr abends und sechs Uhr morgens ein Werbe- und Verkaufsverbot für Alkohol. Die Hersteller dürfen keine Veranstaltungen sponsern und müssen auf ihren Produkten vor den Folgen des Alkoholkonsums warnen.
  • Mehr bei SZ.de: Christiane Schlötzer, die SZ-Türkei-Korrespondentin, hat die Entwicklung rund um die Proteste begleitet. In "Atatürk und Sultan zugleich" analysiert sie die Defizite des türkischen Systems, in dem Premier Erdogan alle Macht bei sich vereint. Viele der jungen Occupygezi-Demonstranten wünschen sich vielmehr "eine neue Partei". In "Istanbuls letzte Kastanie" hat Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk beschrieben, was ihm der Protest bedeutet. Der Text "Erdogan poltert, Gül moderiert" analysiert das Machtgefüge innerhalb der AKP und dieses Storify zeigt "die machtvollen Bilder von #occupygezi".
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