Politologe El-Aouni zu Ägypten:"Niemand darf Religion als Machtinstrument missbrauchen"

Politologe El-Aouni zu Ägypten: "Weg mit Mursi!" steht in großen Lettern in Kairo auf dem Asphalt einer Straße in der ägyptischen Hauptstadt geschrieben.

"Weg mit Mursi!" steht in großen Lettern in Kairo auf dem Asphalt einer Straße in der ägyptischen Hauptstadt geschrieben.

(Foto: Mahmoud Khaled/AFP)

Driftet Ägypten erneut ins Chaos? Der Machthunger von Präsident Mursi und den Muslimbrüdern bringt die Massen auf die Straßen. Der Berliner Politologe Hamadi El-Aouni erklärt, was die neue Regierung antreibt - und warum die Politisierung des Islam das Klima im Land zu vergiften droht.

Johannes Kuhn

Welchen Weg geht Ägypten? Die Entmachtung der Justiz durch Präsident Mursi hat das Misstrauen in der Bevölkerung verstärkt. Der tunesische Politikwissenschaftler Hamadi El-Aouni lebt in Berlin und lehrt dort an der Freien Universität. Er gilt als Kenner der Arabischen Revolution und Kritiker der Muslimbrüder.

Süddeutsche.de: Herr El-Aouni, wie bewerten Sie die aktuelle Lage in Ägypten?

El-Aouni: Das Land ist gespalten. Die große Masse des Volkes ist auf der Seite der verschiedensten Oppositionsparteien und Organisationen, die gegen die absolute Macht der Fundamentalisten kämpfen. Auf der anderen Seite stehen die neuen Machthaber, die Muslimbrüder und ihre nationalen, regionalen und internationalen Helfershelfer, die jetzt mit einigen vagen Maßnahmen und Versprechungen Zeit gewinnen wollen. Wenn Mursi mit dem Obersten Gericht sprechen möchte, ist das nur die Hinhaltetaktik, die wir von den Muslimbrüdern kennen: taktieren, Zeit gewinnen, vollendete Tatsachen schaffen und sich endgültig etablieren.

Führt Mursi das Land in die Autokratie?

Schlimmer als das - wir reden hier von Totalitarismus in einem angeblichen Auftrag Gottes. Die Muslimbrüder sehen sich als Vertreter Gottes auf Erden, machen aus der Religion eine Art Diktat und benutzen Moscheen als Manipulationsräume. Dabei behaupten sie, alleine den Koran verstehen und interpretieren zu können. Das grenzt an Blasphemie gegen das, was dort geschrieben steht. Niemand darf Religion als Machtinstrument oder als Unterdrückungsmittel missbrauchen.

Hamadi El-Aouni

Politologe Hamadi El-Aouni: "Fruchtbares Chaos" in der Oppositionsbewegung.

(Foto: oH)

Wie ist das Verhältnis von Regierung und Justiz?

Die Justiz hat in Ägypten seit dem 19. Jahrhundert eine lange Tradition der Bemühung um Unabhängigkeit, selbst unter Anwar as-Sadat und Hosni Mubarak. Anders als zum Beispiel in Tunesien ging es der Justiz in Ägypten nie darum, ein einfaches ausführendes Organ des Präsidenten zu sein. Die Folgen dieses traditionellen guten Ansehens der ägyptischen Justiz bekommen nun die Muslimbrüder mit aller Härte zu spüren: Mursi und seine Muslimbrüder hatten eine stille Entmachtung sämtlicher Staatsorgane geplant und dabei nicht damit gerechnet, dass es zu derartigen Protesten und Streiks kommen könnte, dass hochrangige Juristen vor die Presse gehen und internationale Kampagnen starten. Das war ein ganz gravierender Fehler Mursis und seiner Berater, für den die Muslimbruderschaft als Machtapparat politisch bezahlen wird.

Und wie verhält sich die Armee?

Die Armee könnte man fast als Nutznießer der gegenwärtigen Situation bezeichnen. Sie kontrolliert viele Dienstleistungs- und Industriebetriebe wie Infrastruktur und Bauwesen und zieht daraus große Gewinne. Es ähnelt einer stillschweigenden Abmachung zwischen Muslimbrüdern und Militär: Die Muslimbrüder sichern dem Militär zu, dass es für die Rolle während des Unterdrückungsregimes Mubaraks nicht zur Verantwortung gezogen wird; die Armee wiederum überlässt es der jetzigen Regierung, die zivile Macht zu verwalten, solange die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen des Militärs gewahrt bleiben. Zudem besitzt die Regierung ein weiteres Druckmittel gegen das Militär. Das besteht darin, in eigener oder in saudischer Regie die USA im Bedarfsfall dazu zu veranlassen, die Militärhilfen zu kürzen, um damit das Militär Schach halten zu können. Aber auch in dieser Hinsicht könnten sich die Muslimbrüder leicht verkalkulieren.

Sehen Sie eine Fragmentierung der Opposition oder führt die aktuelle Kontroverse zu einer klareren Blockbildung?

Derzeit gibt es eine Art fruchtbares Chaos, aus dem ein Konsens zwischen allen Opponenten entstehen könnte, dessen einzige Maxime "die Ablehnung des Mursi'schen Absolutismus" sein wird. Zwar versuchen gleichzeitig einige Dinosaurier der ägyptischen Politik, wie etwa der Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei oder der ehemalige Generalsekretär der Arabischen Liga und spätere Präsidentschaftskandidat Amr Moussa, die Gunst der Stunde für sich zu nutzen - doch an der Basis der Opposition bilden sich längst andere Koalitionen heraus.

Wie sieht diese Koalition aus?

Zu ihr gehören unter anderem Gewerkschaften, Berufsverbände, Intellektuelle, Studenten- und Frauenorganisationen, koptische Sozialverbände. Sie bilden eine gemeinsame Plattform, aus der ein Volkskongress entstehen könnte, der einen Verfassungsentwurf formulieren könnte, der anschließend den Wählerinnen und Wählern zur Abstimmung vorgelegt werden würde. Irgendwann werden aus diesem losen Bündnis sicherlich auch neue Parteien entstehen, die ein Gegengewicht zu den Muslimbrüdern bilden.

Wie groß ist die Gefahr einer gewaltsamen Eskalation?

Es wird höchstwahrscheinlich nicht zu einem Bürgerkrieg in Ägypten kommen. Es könnten Monate, ja vielleicht sogar zwei bis drei Jahre verstreichen, bis eine neue Verfassung formuliert werden kann, die diesen Namen wirklich verdient und die Prinzipien der Volksrevolution widerspiegelt. Und die wird ganz klar den Weg in Richtung Demokratie aufzeigen, was nicht für Ägypten, sondern für den gesamten arabischen Raum von strategischer Bedeutung ist. Die Schaffung wahrer und klarer demokratischer Verhältnisse und Institutionen in Ägypten würde zwangsläufig dazu führen, dass andere autoritäre und absolutistische Herrschaftsformen von Marokko bis Saudi-Arabien verschwinden.

Sie sind ein scharfer Kritiker der Muslimbruderschaft. Was müsste passieren, dass Sie der Mursi-Regierung einen realpolitischen Kurs abkaufen?

Das wären drei Bedingungen: Erstes müssten sie das politische und soziale Bewusstsein des Volkes endlich fördern. Eine Analphabeten-Rate von mehr als 50 Prozent ist eine Bankrotterklärung für einen Staat, der die Golfmonarchien seit Jahrzehnten mit einem Heer von Lehrern aller Stufen beliefert, nur um in den Besitz von Petrodollars zu kommen. Doch eine bessere Bildung der Menschen würde politisch bedeuten, dass es der Muslimbruderschaft mit ihrer thematischen Manipulation nicht mehr so leicht gemacht würde. Zweitens wäre eine Entpolitisierung der Moscheen notwendig - diese sind Gebetshäuser, sonst für nichts anderes da. Und drittens: die sichtbare und unsichtbare propagandistische Indoktrinierung der Massen durch die vielfältigen Netzwerke der Muslimbrüder, von der Grundschule bis zur Universität, muss unbedingt eingestellt werden, die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Was würde das für die Muslimbrüder bedeuten?

Sie würden auf ihr reales politisches Gewicht in der ägyptischen Gesellschaft reduziert, das Wählerpotenzial dürfte bei zehn bis 15 Prozent liegen. Sollten die Muslimbrüder das Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenrechte, die Gleichstellung aller Bürger vor dem Gesetz, sämtliche Spielregeln der Demokratie und der Transparenz akzeptieren - dann würden sie in die allgemeine für alle geltende Normalität eintreten und in Koalitionen mitregieren können, wenn sie das wollen. Kein Demokrat würde sie daran hindern können oder wollen.

Wie beurteilen Sie generell die Perspektiven für Ägypten?

Es wird weiterhin ein Auf und Ab geben, die Entwicklungen hängen auch davon ab, wie lang der Atem der Opposition sein wird. Und daran, wie glaubwürdig der Westen im arabischen Raum sein will. Die USA unterstützten bisher die Muslimbrüder, weil sie glauben, dass nur eine Scheindemokratie mithilfe eines ideologisch amerikanisierten Islam ihren Interessen dient. Und die liegen darin, die alliierten arabischen Regime in der Golfregion wie Saudi-Arabien, Kuwait und die Emirate vor einem Umsturz zu bewahren. Doch die Völker dieser erdölreichen Staaten beginnen allmählich gegen gegen ihren Status als bestochene Untertanen superreicher Familienclans zu rebellieren. Die Revolten in Bahrain und im Ostteil Saudi-Arabiens könnten als Vorreiter größerer Umwälzungen angesehen werde.

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