Politisches Kräftemessen nach der Europawahl:Wahlsieger war Juncker - und sollte es auch bleiben

Candidate for the European Commission presidency Juncker arrives at an EPP meeting in Brussels

Jean-Claude Juncker auf dem Weg zu einem Treffen mit Vertretern der EVP in Brüssel.

(Foto: REUTERS)

Der luxemburgische Christdemokrat Juncker hat die Europawahl gewonnen. Übergehen die Staats- und Regierungschefs ihn nun bei der Kür des EU-Kommissionspräsidenten, so missachten sie die Bürger, schwächen Europa und bestätigen das Klischee vom volksfernen Moloch Brüssel.

Von Stefan Ulrich

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus - so oder ähnlich steht es in vielen demokratischen Verfassungen. Nun ist die Europäische Union kein Staat, sondern ein Staatenverbund. Doch sie ist einem echten Staat immer ähnlicher geworden. Rechtsetzung, Verwaltung und Politik in Brüssel prägen das Leben der Europäer. Dennoch sind die EU-Bürger nur Bürger zweiter Klasse. Die wahre Macht im europäischen Quasi-Staat hat der Rat der Staats- und Regierungschefs. Die Wähler können die EU-Politik nur indirekt über nationale Wahlen bestimmen. Das schafft, zu Recht, Verdruss und gibt Brüssel das Image eines menschenfernen Molochs.

Um diesen Missstand abzumildern, wurde das Europaparlament geschaffen. Es hat sich, über Jahrzehnte, Rechte erstritten, aber noch längst nicht die Macht, die normalen Parlamenten zukommt. Der Vertrag von Lissabon wollte das EU-Parlament weiter aufwerten. Er bestimmt, dass das Ergebnis der Europawahl bei der Kür des EU-Kommissionspräsidenten berücksichtigt werden muss. Das Parlament und dessen Präsident Martin Schulz (SPD) haben diese Gelegenheit für mehr Demokratie beherzt genutzt. Die Parteienfamilien stellten Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten auf. Politiker in den EU-Staaten machten sich während des Wahlkampfs für den Kandidaten ihrer Familie stark, die christdemokratische Kanzlerin Angela Merkel etwa für den Christdemokraten Jean-Claude Juncker.

Cameron und Co. wollen vereiteln, dass Europa demokratischer wird

Juncker gewann mit seiner Europäischen Volkspartei die Wahl. Nun wird er also Kommissionspräsident - sollte man meinen. Doch was passiert? Der Wahlsieger wird demontiert, und das wirkt systematisch. Der Brite David Cameron, der eine ganz schwache EU will, suggeriert, sein Land könnte austreten, falls Juncker Kommissionspräsident wird. Andere Staats- und Regierungschefs verstecken sich hinter Camerons Erpressung. Auch sie wollen Juncker und damit eine Machtverschiebung vom Rat zum Parlament vereiteln. Stellungnahmen konservativer Staats- und Regierungschefs für Juncker wirken wie gequälte Lippenbekenntnisse. Gerüchte werden gestreut, die schon vor der Wahl bekannt waren. Hinter den Kulissen läuft die Suche nach einem anderen, dem Rat genehmen Kommissionspräsidenten. Die Frage ist nur, warum Parteien wie die CDU Juncker eigentlich aufgestellt haben.

Schulz, Juncker und anderen Pro-Europäern im Parlament wird ein Putsch gegen den Rat vorgeworfen. Dabei entspricht es historischer Erfahrung, dass Parlamente sich ihre Rechte von den Fürsten ertrotzen müssen. Nun geben die Staats- und Regierungschefs die Fürsten der EU. Soll Europa demokratischer werden, müssen die Abgeordneten ihnen Macht abringen.

Falls der Rat jetzt Junckers Wahlsieg ignoriert und einen Kommissionspräsidenten auskungelt, so spottet das dem Wählerwillen. Die EU-Bürger müssen sich dann übergangen fühlen. Europa würde seine Kritiker bestätigen, ein volksferner Moloch zu sein. Und bei der nächsten Europawahl blieben die Urnen leer.

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