Politische Veränderungen in der Euro-Krise:Gepriesen seien die Märkte

Silvio Berlusconi tritt zurück, Europa wird eine Stabilitäts- und Haftungsunion. Doch nicht die Staats- und Regierungschefs waren die wirklichen Urheber dieser europäischen Fortschritte - der Politik fehlt es in der Krise an Mut und strategischer Weitsicht.

Joschka Fischer

Joschka Fischer (Grüne), 63, war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler. Er schreibt exklusiv für die Süddeutsche Zeitung und Project Syndicate.

Seit zwei Jahren jagt in der Europäischen Union ein Gipfel den nächsten, immer verbunden mit der Ansage, jetzt wären die entscheidenden Maßnahmen zur Eindämmung der Krise getroffen worden. Und es gehört zu den Merkwürdigkeiten der leicht hysterischen öffentlichen Krisenwahrnehmung und der noch hysterischeren Berichterstattung darüber, dass man bisher eigentlich immer falsch lag. Nur dass es das letzte Mal genau anders herum kam.

Die meisten Gipfel der EU und der Euro-Gruppe zuvor wurden öffentlich als Durchbrüche gefeiert, die sie tatsächlich niemals waren. Drei Tage dauerte es dann in der Regel, bis den Märkten die Wahrheit dämmerte, und anschließend ging die europäische Krise in die nächste Runde.

Statt Erfolge bei der Krisenbekämpfung zu produzieren, verfuhren die Staats- und Regierungschefs lieber zwei Jahre lang nach der Devise des "zu wenig und zu spät!" Die Preise für die Krisenrettung durch die Staaten und deren Steuerzahler stiegen so immer weiter an. Zugleich machte man durch mangelnde Entschiedenheit und Zuwarten aus einer beherrschbaren Finanzkrise Griechenlands eine existenzbedrohende Krise für die Staaten der südlichen EU-Peripherie und für das gesamte europäische Projekt. Das war in der Tat ganz große Staatskunst und ging zu weiten Teilen auf Bundeskanzlerin Angela Merkels und Deutschlands Rechnung.

Der Vorrat an Vertrauen gegenüber den handelnden Akteuren im Europäischen Rat war aber vor dem letzten Gipfel offensichtlich völlig aufgebraucht; man schien die Beschlüsse des Rates nicht mehr ernst zu nehmen. Dabei hätten sie es diesmal wahrhaft verdient! Mag sein, dass das Veto Großbritanniens gegen eine Änderung des Europavertrags alles andere überlagerte und so das Misstrauen der Öffentlichkeit und der Märkte gegenüber einer gespaltenen Europäischen Union noch verstärkte.

Aber auch dieses Gerede von der Spaltung der EU ist Unsinn, denn der britische Premierminister konnte einer Vertragsänderung, die eine Fiskalunion schaffen sollte, niemals zustimmen, ohne nicht das sehr große Risiko eines Referendums zu Hause einzugehen, das in der Konsequenz zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU führen würde. Und niemand in Europa, der noch seine fünf Sinne beieinander hatte, konnte daran ein Interesse haben.

Daher war seit Monaten klar, dass eine Vertragsänderung als rechtlich bindende Grundlage für den Schritt in eine europäische Fiskalunion hinein einerseits unverzichtbar, andererseits aber nur außerhalb des Europavertrags geschehen konnte - und zwar zwischenstaatlich und als EU 17 oder EU 17+, wie jetzt geschehen.

Der Streit mit Großbritannien ist unnötig wie ein Kropf

Diese Tatsache begründet auch mitnichten den Alarmruf "Spaltung!", da die Staaten der EU und vor allem die der Währungsunion seit langem mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten fahren. Unnütz wie ein Kropf war und ist allerdings die Konfrontation zwischen Großbritannien und dem Kontinent, denn London hat ein überragendes Interesse am Ende der Krise und einem starken Euro; und die Kontinentaleuropäer brauchen Großbritannien in der EU.

Das Veto und den Krach hätte man sich daher getrost schenken können. David Cameron wird es zudem eines nicht allzu fernen Tages noch bereuen, dass er sich seinen euroskeptischen Hinterbänklern ausgeliefert hat. Er gibt dem Affen Zucker und stärkt ihn so, anstatt ihn im Käfig der Hinterbänke wegzuschließen, und das wird Großbritanniens Einfluss in der EU dramatisch schwächen. Leider!

Auf dem letzten Gipfel wurde die Tür für die 17+ zu einer Fiskalunion weit geöffnet. Wenn bis März 2012 ein Vertrag ausverhandelt und in den folgenden Monaten ratifiziert werden wird, dann wird die EU einen unglaublichen Schritt voran getan haben. Und dann werden die Europäer nur noch einen Schritt von einer tatsächlichen politischen Union entfernt sein, die danach als Schritt zwei zwingend kommen muss, wenn man die Krise dauerhaft beenden will.

Das Misstrauen gegen die jüngsten Brüsseler Beschlüsse speist sich, neben dem erschöpften Vertrauen und der Aufregung um das britische Veto, auch aus der Tatsache, dass anscheinend keine Beschlüsse zur aktuellen Krisenintervention gefasst wurden. Tatsächlich ist dies aber nur ein weiterer Irrtum.

Die Kanzlerin sollte David Cameron dankbar sein

Liest man die Beschlüsse, so fällt sofort auf, dass mit der Fiskalunion auf intergouvermentaler Grundlage eine historische Tür geöffnet wurde, dass dabei Deutschland und die anderen reichen Nordstaaten alles an Stabilitätsmechanismen und -garantien bekommen haben, was sie bisher vergeblich verlangt hatten, und dass somit kein Grund mehr bestand, sich weiter einer aktiven Kriseninterventionspolitik mit entsprechenden Finanzgarantien durch die reichen Staaten zu verweigern. Der jüngste Gipfel von Brüssel hat den Einstieg in die Fiskalunion gebracht, und zwar mit den beiden wesentlichen Komponenten einer Stabilitäts- und, wichtig!wichtig!, Haftungsunion! In Deutschland ist diese Tatsache noch überhaupt nicht richtig wahrgenommen worden.

Aber genau das ist der lauthals beschwiegene zweite Teil der Beschlüsse des letzten Europäischen Rates. Kurzfristig umgesetzt wird die Haftungsunion durch die EZB, denn diese wird fortan wieder politisch freie Hand haben! Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank wird in Berlin erneut eine nahezu sakrale Rolle bekommen, denn so kann man sich innenpolitisch hinter einer europäischen Institution verschanzen. Unter diesem Gesichtspunkt muss Angela Merkel David Cameron sogar sehr dankbar sein für den Krach, den er als die Reinkarnation der britischen Bulldogge in Brüssel veranstaltet hat.

Ach ja, und wem verdanken wir all diese europäischen Fortschritte? Der Weisheit unserer Staats- und Regierungschefs und ganz besonders von Merkozy? Leider Fehlanzeige. Es war fast ausschließlich der Druck der viel geschmähten Märkte! Es war nicht die Politik, die Berlusconi gestürzt hat, das taten die Märkte. Und es war auch nicht die Politik, welche die Tür zur Fiskal- und danach zur politischen Union geöffnet hat, auch hier waren die Märkte am Werk. Dass dies so ist, fällt ausschließlich in die Schuld der Politik. Ihr fehlt es an strategischer Weitsicht und Mut in der Krise Europas - und auch bei der Regulierung der Märkte.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: