Politische Einstellungen:Deutschland 2016 - die gespaltene Gesellschaft

Supporters of the anti-Islam movement PEGIDA take part in a demonstration in Dresden

Angst vor der "Islamisierung": Pegida-Anhänger im Frühjahr 2016 in Dresden

(Foto: REUTERS)
  • Flüchtlinge und Terroranschläge waren 2016 die beherrschenden Themen in Deutschland.
  • Die Frage, wie damit umzugehen ist, spaltet die Gesellschaft.
  • Dafür sprechen nicht nur die Wahlerfolge der Rechtspopulisten. Auch wissenschaftliche Studien zeigen, dass (neu)rechte Einstellungen und die Angst vor Muslimen weit verbreitet sind.

Von Markus C. Schulte von Drach

Die großen Themen in Deutschland waren 2016 die Flüchtlinge und die Angst vor Terror. Noch mehr als im Jahr zuvor haben Gesellschaft und Politik diskutiert, ob die Asylsuchenden, die in den vergangenen Jahren ins Land gekommen sind, die Terrorgefahr erhöht haben könnten.

Tatsächlich verübten oder versuchten 2016 mehrere Personen Anschläge, die als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen waren. Zuvor hatten bereits die zahlreichen sexuellen Übergriffe auf Frauen durch Ausländer in der Silvesternacht heftige Diskussionen ausgelöst.

Wie sehr sich diese Ereignisse auf die politische Einstellung der Bevölkerung ausgewirkt haben, zeigen nicht nur die Ergebnisse der Landtagswahlen 2016 und Umfragen zur Zustimmung zu den Parteien. Zwei große wissenschaftliche Studien der Universitäten in Bielefeld und Leipzig belegen, wie gespalten die Gesellschaft bezüglich der Flüchtlinge und anderer Minderheiten ist und wie weit verbreitet (neu)rechte Einstellungen inzwischen sind.

So konnte 2016 insbesondere jene Partei bei den Landtagswahlen viele Stimmen hinzugewinnen, die auf Fremden- und Islamfeindlichkeit setzt und für neurechte Einstellungen steht: die AfD. In Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern erhielt sie mehr als 20 Prozent der Stimmen, in Baden-Württemberg, Berlin und Rheinland-Pfalz deutlich mehr als zehn Prozent.

Offenbar berufen sich gerade angesichts der Flüchtlingskrise viele, die in der Vergangenheit noch CDU, CSU oder SPD gewählt haben, zunehmend auf eine besondere nationale Identität. Sie reagieren auf die Offenheit der liberalen Gesellschaft mit antidemokratischen, chauvinistischen, nationalistischen Tendenzen.

Eine Mehrheit der Deutschen lehnt die Rechtspopulisten aber weiterhin ab. Wie etwa die Studie des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt-und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld im November gezeigt hat, finden 56 Prozent der fast 1900 Befragten es sogar eher positiv, dass Deutschland bereit war, so viele Flüchtlinge aufzunehmen. Allerdings würde eine Mehrheit von fast 53 Prozent inzwischen eine Obergrenze für die Aufnahme begrüßen.

Angst vor einer Islamverschwörung

20 Prozent meinen, Deutschland habe bereits jetzt zu viele Flüchtlinge aufgenommen. Fast genauso groß ist der Anteil derjenigen, bei denen die Forscher eine muslimfeindliche Einstellung feststellten. Ein Gefühl der Bedrohung durch den Islam ist weit verbreitet: Insgesamt, so berichteten die Forscher, "teilt gut ein Drittel der Bevölkerung Vorstellungen einer Islamverschwörung". Jeder Dritte gab außerdem an, sich durch die Muslime manchmal wie ein Fremder im eigenen Land zu fühlen.

Trotz der Entwicklungen der jüngeren Zeit war die Muslimfeindlichkeit in der Vergangenheit allerdings auch schon deutlich größer. Und bemerkenswert ist, wie stark der Antisemitismus zurückgegangen ist.

Vorurteile gegenüber Minderheiten

Die Studie, die im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung vorgenommen wurde, zeigte darüber hinaus, dass jeder Zweite Vorurteile gegenüber Asylbewerbern hegt. Dabei hatte die Zahl der Menschen, die eine allgemein rassistische oder sexistische Haltung zeigen, seit 2002 insgesamt tendenziell abgenommen. Sie liegt nun bei neun Prozent.

Zu teils ähnlichen Ergebnissen sind bereits im Juli Forscher der Universität Leipzig gekommen, die im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung, der Otto-Brenner-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung 2420 Deutsche besucht und befragt hatten. Allerdings hatten sie eine noch weit größere Ablehnung von Immigranten beobachtet. Vorbehalte existieren den Forschern zufolge auch in sonst eher liberalen Kreisen, die Befürchtunge hinsichtlich fundamentalistischer Religiosität und der weiblichen "Verhüllungspraktiken" unter Muslimen haben.

Misstrauen gegenüber der Politik und Verschwörungstheorien

Beide Forschergruppen beobachteten darüber hinaus ein wachsendes Misstrauen gegenüber den demokratischen Parteien in Deutschland. Wie die Bielefelder Wissenschaftler berichteten, geht ein großer Teil der Bevölkerung davon aus, dass die Regierung in Berlin die Wahrheit verschweige und dass die regierenden Parteien das Volk betrögen. Viele halten die Zeit für gekommen, "mehr Widerstand gegen die aktuelle Politik zu zeigen".

Demokratie und Nationalgefühl

Die Leipziger Forscher stellten zwar fest, dass die Zahl der Menschen mit einem "geschlossenen rechtsextremen Weltbild" nicht wächst. Aber jeder Fünfte meint, Deutschland könnte eine einzige starke Partei gebrauchen, die die Volksgemeinschaft verkörpere. Jeder Dritte zeigte darüber hinaus das Bedürfnis nach einem stärkeren Nationalgefühl.

Diese Einstellungen breiteten sich nicht in erster Linie unter Menschen in prekären Soziallagen aus, sagt der Soziologe Stephan Lessenich von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Er spricht von einer "Mittelschichtsbewegung" als Folge einer schweren Enttäuschung: Teile der Mittelschicht vermissten ein in der Politik - bis jetzt zumindest gefühlt existierendes - imperatives Mandat, das heißt: Abgeordnete, die an den Wählerwillen gebunden sind. Heute sei die Politik "wahlweise zu freundlich zu den Zugewanderten oder zu nachsichtig gegenüber den Unterschichten oder dem Finanzkapital".

Die Zahlen der Universität Leipzig zeigen keine grundsätzliche Ablehnung der Demokratie. 94 Prozent halten diese für eine gute Idee. Aber "wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert", das finden lediglich 54 Prozent gut. Mit anderen Worten: Fast jeder Zweite ist unzufrieden mit den hiesigen politischen Verhältnissen. Das gilt auch für die liberalen Medien, die von vielen als "Lügenpresse" betrachtet werden.

Auffällig ist, wie die Angst vor Terroranschlägen und den Folgen der Flüchtlingskrise andere Sorgen in den Hintergrund drängt. So fürchtet zwar noch immer jeder Zweite Naturkatastrophen. Aber in den "Top Ten" der Ängste der Deutschen, die im Juli die R&V Versicherung anhand einer Umfrage mit etwa 2400 Teilnehmern erstellt hat, taucht sie nicht mehr auf. Ähnlich ist es mit der Sorge um Geld und Gesundheit. Allerdings muss man hier wohl berücksichtigen, wie nach den Ängsten gefragt wird. So hatten in einer Allensbach-Umfrage Anfang September die 1000 befragten Deutschen im Alter zwischen 30 und 59 Jahren mehr Angst, Opfer von Krankheit und Kriminalität zu werden als Opfer eines Terroranschlags.

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