Politikwissenschaftler Moïsi über zehn Jahre 9/11:"Amerika ist kränker als gedacht"

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Die USA werden von Angst beherrscht - und das nicht erst seit dem 11. September 2001: Politikwissenschaftler Dominique Moïsi über ein Land in der Identitätskrise, Gefühle in der Weltpolitik - und über die Macht der Hoffnung im Kampf gegen Terroristen.

Lilith Volkert

Der Politikwissenschaftler Dominique Mo ï si ist Mitbegründer des "Institut Français des Relations Internationales" (IFRI) in Paris, er lehrt unter anderem an der Harvard University. Außerdem ist Moïsi Autor des Buches "Kampf der Emotionen. Wie Kulturen der Angst, Demütigung und Hoffnung die Weltpolitik bestimmen". Moïsi kam 1946 zur Welt, sein Vater überlebte das KZ Auschwitz.

Elf Jahre nach 9/11
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Elf Jahre nach den Anschlägen auf das World Trade Center gedenkt Amerika der knapp 3000 Opfer vom 11. September 2001. In der Vergangenheit hielten bei den Gedenkfeiern in New York Politiker wie US-Präsident Barack Obama Reden. In diesem Jahr steht der persönliche Schmerz der Zurückgebliebenen im Mittelpunkt.

sueddeutsche.de: Monsieur Moïsi, als am 11. September 2001 zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers rasten, glaubten viele, dies sei der Beginn eines "Kampfes der Kulturen", wie Samuel Huntington ihn Anfang der neunziger Jahre prophezeit hatte: westliche Welt gegen islamische Welt. Sehen Sie das genauso?

Dominique Mo ï si: Nein. Hier sind nicht kulturelle Unterschiede aufeinandergeprallt, sondern verschiedene kollektive Emotionen: Die Attentäter stammten aus einem Umfeld, in dem das Gefühl der Demütigung vorherrscht. Amerika wird von einer Kultur der Angst beherrscht. Man sollte sich mehr mit Gefühlen beschäftigen, wenn man die Welt und ihre Konflikte verstehen will.

sueddeutsche.de: Können Sie das genauer erklären?

Mo ï si: Emotionen beeinflussen nicht nur das Verhalten einzelner Menschen, es gibt auch kollektive Stimmungslagen, die sich auf politische und gesellschaftliche Konflikte auswirken. Sie sind immer präsent, sie können Gutes und Schlechtes bewirken: Dass eine Gruppe junger Männer Flugzeuge entführt, aber auch, dass ein Land zum ersten Mal in seiner Geschichte einen schwarzen Präsidenten wählt. Natürlich sind die wichtigsten Emotionen - Angst, Demütigung und Hoffnung - in jedem Land vorhanden, sie unterscheiden sich aber in der Intensität.

sueddeutsche.de: Warum führen Sie genau diese drei auf: Angst, Demütigung und Hoffnung?

Mo ï si: Weil sie ausdrücken, wie viel Selbstvertrauen und Zuversicht - auf Englisch "confidence" - eine Gesellschaft hat. Wer Angst hat, dem fehlt das Selbstvertrauen: In Nordamerika und Europa herrscht das Gefühl vor, dass man die beste Zeit schon hinter sich hat. Demütigung wiederum ist das gekränkte Selbstvertrauen jener, die die Hoffnung in die Zukunft verloren haben. In der arabischen Welt sahen viele Menschen bis vor kurzem neben einer glorreichen Vergangenheit ihre elende Gegenwart - und überhaupt keine Zukunft.

sueddeutsche.de: Und die Hoffnung?

Mo ï si: Wer hofft, der glaubt daran, dass es ihm morgen besser gehen wird als heute. Dieses Gefühl finden Sie vor allem in Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien. Der Grad an kollektiver Zuversicht ist wichtig: Sie ist eines der bedeutendsten Elemente einer intakten Weltordnung.

sueddeutsche.de: Warum?

Mo ï si: Weil sie Staaten wie Individuen erlaubt, die eigenen Fähigkeiten auszuschöpfen und nach Krisen wieder auf die Beine zu kommen. Und weil sie vor der Unsicherheit schützt, die unsere globalisierte Welt erzeugt. Heute hat die Identitätssuche von Menschen, die nicht wissen, wer sie sind und wo ihr Platz in der Welt ist, die Ideologie als Motor der Geschichte abgelöst.

sueddeutsche.de: Nach Ihrer Auffassung haben die Attentäter vom 11. September die Anschläge verübt, weil sie sich gedemütigt fühlten.

Mo ï si: Das war ein wichtiger Antrieb, ja. Aber mit Terror etwas erreichen zu wollen, ist immer eine Ohnmachtserklärung. Das zeigt, wie groß das Gefühl der Hoffnungslosigkeit bei den Attentätern war. In vielen arabischen Ländern sieht man sich als Hauptverlierer der Globalisierung.

sueddeutsche.de: Hängt denn die Zuversicht, von der sie sprechen, nur von der wirtschaftlichen Situation einer Region ab?

Mo ï si: Nein, das ist nur ein Teil. Am wichtigsten ist das Gefühl, dass man sein Schicksal selbst in der Hand hat. Dazu gehört ein positives Selbstbild, Willenskraft und die Überzeugung, dass man erfolgreich sein kann - und sein wird.

sueddeutsche.de: In den Vereinigten Staaten, denen Sie eine Kultur der Angst attestieren, ist dieser Glaube an eine bessere Zukunft sprichwörtlich. Die USA gelten seit jeher als Land der Hoffnung, in dem jeder neu anfangen und sein Glück machen kann.

Mo ï si: Das stimmt. In der amerikanischen Geschichte war aber auch immer die Furcht vor dem Niedergang präsent - von den Hexenverfolgungen im 17. Jahrhundert bis zur McCarthy-Ära in den 1950er Jahren, als überall vermeintliche Kommunisten gewittert wurden. Der 11. September 2001 hat diese Angst noch einmal deutlich verstärkt. Eine Gesellschaft, die sich immer für unverwundbar gehalten hat, wurde empfindlich getroffen und musste feststellen, dass ihre Geheimdienste versagt hatten. Das hat das Land in eine tiefe Identitätskrise gestürzt.

sueddeutsche.de: Gleichzeitig schien es so, als hätten die Amerikaner durch den gemeinsamen Feind zueinandergefunden und ein neues Selbstbild aufgebaut.

Mo ï si: Ein Stück weit war das auch der Fall. Doch die Konsequenzen, die das Land aus den Anschlägen gezogen hat - vor allem die militärischen Abenteuer in Afghanistan und Irak - haben seine Krise nur noch verschlimmert. Man kann sagen, dass Amerika den sogenannten "Krieg gegen den Terrorismus" im Großen und Ganzen gewonnen hat. Doch es war ein Pyrrhussieg - der Preis auf wirtschaftlicher und politischer Ebene war beträchtlich.

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sueddeutsche.de: Die USA mussten im vergangenen Jahrzehnt nicht nur feststellen, dass sie verwundbar sind, sondern auch, dass ihre wirtschaftliche Stärke nicht unantastbar ist. Wie wirkt sich die ökonomische Komponente aus?

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Mo ï si: Der relative Bedeutungsverlust der USA in der Welt macht den Amerikanern große Angst. Sie sehen, dass Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien rasant aufholen. Ich glaube ja, dass nicht nur die anderen Länder auf dem Vormarsch sind, sondern die USA gleichzeitig Rückschritte machen. Das politische System ist gestört. Die Eigenschaften, die Amerika groß gemacht haben, der Individualismus, die Willensstärke, finden Sie zwar noch bei den Menschen, aber nicht mehr auf politischer Ebene.

sueddeutsche.de: Barack Obama ist vor drei Jahren angetreten, um all das zu ändern.

Mo ï si: Er wurde als Kandidat der Hoffnung gewählt, aber seit er an der Macht ist, gibt es noch mehr Angst und Unsicherheit in den USA. Sehen Sie sich an, was in den letzten Wochen an den Börsen los war: Es fehlt ganz massiv an Vertrauen.

sueddeutsche.de: Warum hat er die Kehrtwende nicht geschafft?

Mo ï si: Amerika ist kränker als gedacht, die Gesellschaft gespaltener als befürchtet. Und Barack Obama wohl auch nicht so außergewöhnlich, wie viele gehofft haben.

sueddeutsche.de: Immerhin haben die USA unter ihm den Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001 ausgeschaltet.

Mo ï si: Auch wenn sich durch seinen Tod an der Bedrohung durch al-Qaida wenig geändert hat, Osama bin Ladens Tod war tatsächlich ein wichtiger Erfolg für seine Feinde im Westen und der arabischen Welt. Man hat damals von seinem zweiten Tod gesprochen.

sueddeutsche.de: Warum dem zweiten?

Mo ï si: Als seinen ersten Tod haben viele die totale Abwesenheit von al-Qaida am Anfang des Arabischen Frühlings gesehen: Diese Revolutionen wurden nicht von Islamisten gemacht. Die Tunesier und Ägypter haben sich alleine von ihren Herrschern befreit, auch in Libyen hat al-Qaida keine große Rolle gespielt.

sueddeutsche.de: Hat das etwas an dem von Ihnen diagnostizierten Gefühl der Demütigung in dieser Region geändert?

Mo ï si: Ja, und zwar in der ganzen arabischen Welt, nicht nur in den direkt betroffenen Ländern. Wie sehr, wird man erst in einigen Jahren sehen, wenn man weiß, wie es dort weitergegangen ist. Sicher ist: Es wurde etwas in Bewegung gesetzt. Die Leute haben zum ersten Mal das Gefühl, dass sie ihr Schicksal in der Hand haben und Dinge grundsätzlich ändern können: Jemand, der gerade noch große Macht besaß, wie der ägyptische Langzeit-Präsident Hosni Mubarak, kann trotzdem ein paar Monate später als Gefangener in einem Käfig im Gerichtssaal sitzen.

sueddeutsche.de: Was bedeutet diese Entwicklung für islamistische Terroristen?

Mo ï si: Es wäre zu optimistisch, zu sagen, dass wir in einer postislamistischen Welt angekommen sind. Doch in dem Moment, in dem es ein Gefühl der Hoffnung gibt, ist der Fundamentalismus eindeutig in der Defensive.

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