Politik:Justizirrtum

Jens Gnisa, Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, beklagt das Ende der Gerechtigkeit. Doch Argumente oder eine stichhaltige Beweisführung sind seine Sache nicht. Er agiert lieber wie ein politischer Draufgänger.

Von Rolf Lamprecht

Kundgebung mit Martin Schulz Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat der SPD Hier ein Aufsteller Ze; 

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Kundgebung mit Martin Schulz Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat der SPD Hier ein Aufsteller Ze

Die Gerechtigkeitsfrage treibt nicht nur Jens Gnisa um. Die SPD - und nicht nur die - macht damit Wahlkampf, wie hier in Bielefeld.

(Foto: Michael Gottschalk/imago)

Jens Gnisa, Vorsitzender des Deutschen Richterbundes und damit Repräsentant von mehr als 16 000 Robenträgern, legt ein Buch vor, das er in Interviews zutreffend als einen "persönlichen Zwischenruf" einstuft. Wäre er mal so bescheiden geblieben. Nun muss er sich messen lassen an seinem anspruchsvollen Titel: "Das Ende der Gerechtigkeit: Ein Richter schlägt Alarm".

Das Ensemble von Schlagworten führt prompt in die Irre. Es weckt Erwartungen, die das Buch nicht einlöst; und es offenbart zugleich, dass widerspruchsfreies Denken nicht zu den Stärken des Autors gehört. Bei der Lektüre stellt sich schnell heraus: Mit dem Wort Gerechtigkeit, dessen Dahinschwinden der Titel suggeriert, kann Gnisa in Wahrheit nichts anfangen. Der Begriff, der Rechtsphilosophen in der ganzen Welt beschäftigt, ist ihm zu abstrakt, zu vage. Konkretes Gegenbeispiel ist für ihn ein Disput aus Studententagen. Eine Kommilitonin fand etwas "ungerecht". Er belehrte sie: "So sollte ein Jurist nicht denken. Denn: der Begriff Gerechtigkeit steht nicht im BGB, hat also keinerlei rechtlichen Ansatz."

Noch irritierender als dieses einfältige Selbstzitat sind allerdings die gedanklichen Unschärfen, wie etwa im Titel. Der alarmierende Ton lenkt die Aufmerksamkeit in eine falsche Richtung. Der Leser sucht lange, zu lange, nach dem "Ende der Gerechtigkeit", bis er begreift, dass der Autor die Behauptung gar nicht beweisen will.

Ein "persönlicher Zwischenruf" hätte ihm solche Rechenschaft nicht abverlangt. Der Leser wäre mit zielführenden Impressionen - unbewältigte Flüchtlingskrise, terroristische Bedrohung, Totalausfall der Kölner Polizei zu Silvester 2015 - zufrieden gewesen. Verständlich, wenn Politiker nach so einem Schock mit Vokabeln wie "Staatsversagen" um sich werfen. Doch sobald sich ein Richter in herausgehobener Position als Ankläger positioniert, ist er beweispflichtig.

Führt der Autor den juristischen Begriff auf seinen Kern zurück? Leider nein

Davor drückt sich Gnisa. Statt zu argumentieren, reiht er politische Parolen aneinander. Beim Asylrecht etwa greift er Vorwürfe auf, die Merkel seit 2015 zu hören bekommt. Er beschwört das Unvermögen des Staates, die "Identitäten" der Asylbewerber "ernsthaft zu überprüfen", "dem Sozialbetrug durch Flüchtlinge einen Riegel vorzuschieben" und "diejenigen abzuschieben", die keinen Asylgrund haben oder sogar gefährlich sind. Die Denkfalle: Alle staatlichen Sünden, die er auflistet, liegen auf dem Richtertisch. Wenn die Gerechtigkeit wirklich vor sich hinsterben sollte, haben das letztlich auch seine Kollegen zu verantworten.

Wer als Erstes die letzte Seite liest - kann von der Erzählweise des Autors und von seinem theoriefernen Konzept nicht überrascht sein. Der so informierte Leser weiß, dass Gnisa sein Buch "als Jurist für den Bürger" schreiben wollte - "sozusagen aus dem Maschinenraum der Justiz". Diesem Plan ist er gefolgt, hemdsärmelig und nicht eben systematisch. Er registriert, wie Marcellus in Shakespeares "Hamlet", dass etwas faul ist im Staat. Offenkundige Defizite trägt er zusammen. Die Liste wird lang - und insinuiert, dass hier womöglich die schiere Quantität in eine besorgniserregende Qualität umschlagen könnte.

Jens Gnisa: Das Ende der Gerechtigkeit

Jens Gnisa: Das Ende der Gerechtigkeit: Ein Richter schlägt Alarm. Herder-Verlag Freiburg 2017, 288 Seiten, 24 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

(Foto: Herder)

Gnisa begreift sich offenbar - im Gegensatz zu seinen Vorgängern - als Gewerkschaftsführer. Er hat schnell die Regel gelernt: Nur wer auf den Putz haut, macht Schlagzeilen. Nun sitzt auch er in Talkshows und ist als Interviewpartner begehrt. Er glänzt nicht als intellektueller Vordenker des Standes - er agiert wie ein politischer Draufgänger, der sich, das zeigt sein Buch, weit über berufsspezifische Fragen hinaus in die Arena wagt. Er schreibt und redet unbekümmert drauflos, ohne Scheu, sich zu widersprechen; bisweilen kommt er vom Hölzchen aufs Stöckchen.

Seine "Liste weiteren Staatsversagens" ist ein Beleg dafür. Unmittelbar nach den harten Themen kommt, wohl mehr der bunten Mischung als der Logik wegen, eine Realsatire: über Doppelmoral in der Provinz. In der Kasse eines NRW-Städtchens gähnte ein Haushaltsloch von 500 000 Euro; das war entstanden, weil ein wütender Bürger den Blitzautomaten zertrümmert hatte. Nun stand der Kämmerer ohne die fest eingeplanten Bußgelder da. Gnisa: "Hier wird der Staat zum Nutznießer des Gesetzesverstoßes."

Er schreibt als Pragmatiker, erzählt Geschichten aus dem Gerichtsalltag, kommentiert die Berliner Politik, lässt einschlägige Themen Revue passieren, lehnt Vorbeugehaft ab, bejaht Vorratsdatenspeicherung und findet, dass Deutschland durch die Zuwanderung zwar "komplizierter", aber auch "interessanter, moderner, offener" geworden ist. Ins Links-rechts-Schema passt er nicht.

Der kollektive Glauben an die eigene Unfehlbarkeit ist ein ständiger Begleiter der Zunft

Derzeit haben alle Parteien soziale Gerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben. Ein weites Feld. Hier wird die Fallhöhe zwischen logischer Definition und emotionaler Interpretation deutlich. Man hätte sich gewünscht, dass der Sprecher der deutschen Richter, wenn er sich denn schon zu Wort meldet, den juristischen Begriff auf seinen Kern zurückführt. Doch er fällt nur in den allgemeinen Chor ein.

Er versucht, dieses Manko wieder wettzumachen, indem er gefährliche Schmutzecken der Gesellschaft ausleuchtet - Orte, die jeder meidet. Sein Bericht über eine Fahrt mit dem Duisburger Polizeipräsidenten durch die "No-go-Area" Marxloh erweist sich als Glanzstück. Hier regieren die Stammesväter familiärer Clans, hier endet das "Gewaltmonopol des Staates".

Jeder "rechtsfreie Raum" ist einer zu viel. Aber es gibt sie: als Gettos libanesischer Großfamilien in Berlin, Duisburg und Bremen (Gnisa), als mafiöse Slums in Großstädten, als neonazistische Domänen in ostdeutschen Kleinstädten. Jens Gnisa möchte aus gutem Grund keinen einzigen dulden. Das ist nur ein Monitum von vielen. Die Liste seiner begründeten Mängelrügen reicht vom Sparzwang über unnötige Belastungen und überflüssige Gesetze bis zum Personalmangel. Er lässt Fakten sprechen: "Es steht nun fest, dass bundesweit 2000 Richter und Staatsanwälte fehlen."

Leseprobe

Das weitgehend unsortierte Buch endet mit einem überraschend klaren Resümee. Unter dem Appell "Retten wir den Rechtsstaat" geht Gnisa drei Fragen nach: "Was die Politik ändern muss, was die Justiz ändern muss, was wir alle ändern müssen?" Das ist freilich Zukunftsmusik. In der Gegenwart erfordern gänzlich neue Verbrechen gänzlich neue Gesetze. Wie Kriminalität im Netz bekämpfen? Wie Terrorakte verhindern? Zeitaufwendige Rechtsfragen, die samt und sonders bei Gericht landen. Die Richter sind überfordert - und sie machen Fehler. In einem Berufsstand, der sich mit dem Eingeständnis von Fehlern immer schwergetan hat. Gnisa räumt zwar "selbstkritisch" ein, "dass wir Richter uns in der Vergangenheit zu schnell auf unsere Unabhängigkeit zurückgezogen haben". Doch bis zur Umkehr ist noch ein weiter Weg.

Unter dem Zwischentitel "Gerechtigkeit: Was ist das?" berichtet er von "fast allen befragten Richtern" - keiner könne sich erinnern, je ein ungerechtes Urteil gefällt zu haben. Umfragen belegten, "dass die Gerechtigkeit für sie kein großes Thema ist - weil sie damit im Reinen sind". Die deformation professionelle, der kollektive Glauben an die eigene Unfehlbarkeit, ist ein ständiger Begleiter der Zunft. Hier vielleicht selbstironisch gemeint? Weit gefehlt! Der Autor hält sich selbst für unfehlbar: "Auch wenn das überheblich klingt, aber mir fällt kein Fall ein, in dem ich mein Urteil oder meinen Vergleichsvorschlag im Nachhinein selbst nicht mehr für gerecht gehalten hätte."

Rolf Lamprecht schreibt über Rechtspolitik. Er ist seit 1968 Berichterstatter an den Obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe.

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