Polen vor der Wahl:Es ist Zeit, den wachsamen Blick nach innen zu richten

Kaczynski attends a news conference in Warsaw

Polens (Noch-)Oppositionsführer Jarosław Kaczyński

(Foto: REUTERS)

Bis jetzt wurde Polen meist von äußeren Mächten bedroht. In der Flüchtlingskrise dominieren nun ausländerfeindliche Parolen den Wahlkampf, das Land steht vor einem Rechtsruck. Das macht Angst.

Von Oldrich Justa

Dieser Artikel erscheint im Rahmen der Kooperation "Mein Europa" von Süddeutsche.de mit dem Projekt FutureLab Europe der Körber-Stiftung.

Mitte September bin ich nach fast einem Jahr in Deutschland wieder nach Polen zurückgekehrt. Mitten im Wahlkampf. Mitten in der europäischen Flüchtlingskrise.

Autoreninfo

Oldrich Justa wurde 1995 in Hamburg geboren und wuchs in Polen auf, er studiert Kulturanthropologie in Berlin. Seine Leidenschaft sind Reisen innerhalb und außerhalb Europas.

Jean-Claude Juncker hatte da gerade vorgeschlagen, dass Polen mit seinen fast 40 Millionen Einwohnern ungefähr 12 000 Flüchtlinge aufnehmen solle. Die Bevölkerung war zutiefst beunruhigt. Und ich war zutiefst beunruhigt wegen dieser Reaktionen aus der Bevölkerung.

"Besorgte Bürger"

Wenn man als Außenstehender eine Zeitung aufschlug, den Fernseher anmachte oder den Menschen auf der Straße zuhörte, hatte man das Gefühl, Polen sei ernsthaft bedroht. Bald hörten die Medien auf, die Situation als "Flüchtlingskrise" zu bezeichnen. Es war von einer "Migrantenwelle" die Rede, "die Europa überschwemmt". In rechtspopulistischen Publikationen konnte man über "muslimische Horden, die vor den Türen Europas stehen" oder über den "islamistischen Sturm auf Europa" lesen. Eine Anti-Flüchtlings-Demonstration in Warschau erinnerte sogar an die Schlacht am Kahlenberg, wo König Jan III. Sobieski 1683 die osmanische Armee schlug.

In den sozialen Netzwerken geht es oft noch extremer zu. Die harmloseren Kommentare bezeichnen Flüchtlinge als "Vieh". Der Vater einer Bekannten, ein Jäger, schrieb auf Facebook, er würde den Panzerschrank, in dem sich seine Waffen befinden, aufmachen, sobald die Flüchtlinge Polen erreichen. Einer der populärsten Vorschläge unter einem Post zum Flüchtlingsthema war, man solle "die Flüchtlinge im ehemaligen Konzentrationslager in Auschwitz unterbringen". Das sind extreme Beispiele. Jedoch ist das, was mittlerweile ganz offiziell von Politikern in Polen zu diesem Thema gesagt wird, nicht viel besser.

Gutes Klima für Populismus

Jarosław Kaczyński, Vorsitzender der rechtspopulistischen Partei "Recht und Gerechtigkeit", nutzt die Krise für seine Zwecke. Das, verbunden mit den Problemen der regierenden Partei "Bürgerplattform", wird ihm wahrscheinlich den Sieg bei der Parlamentswahl am 25. Oktober einbringen. Kaczyński hat keine Scheu, offen Vorurteile, Halbwahrheiten oder sogar Lügen zu verbreiten: Vor wenigen Wochen, während der Flüchtlingsdebatte im Parlament, sprach er über die seiner Meinung nach schreckliche Situation in den Ländern, die viele Flüchtlinge aufnehmen. So würden zum Beispiel "Italiens Kirchen als Toiletten benutzt", und "in Schweden soll es 54 Bezirke geben, wo nur das Scharia-Recht herrscht, und wo die Polizei nichts zu suchen hat". Zu der letzten Behauptung hat die schwedische Botschaft eine offizielle Erklärung abgegeben, dass in ganz Schweden ausschließlich schwedisches Recht gelte.

Doch das ist längst nicht alles: Auf einem kürzlichen Treffen mit Wählern sagte Kaczyński, Flüchtlinge würden gefährliche Krankheiten und Parasiten einschleppen. Laut einer Umfrage wird seine Partei mit 36 Prozent der Stimmen die Wahl gewinnen. Auf dem zweiten Platz liegt demnach die seit acht Jahren regierende "Bürgerplattform" und auf dem dritten die neue Partei des ehemaligen Rockstars Paweł Kukiz. Ob eine Partei aus dem linken Spektrum in das neue Parlament einzieht, ist unklar.

Was Kaczyński vom Rednerpult predigt, ist noch extremer auf Facebook und auf der Straße zu beobachten. Mehrere Anti-Flüchtlings-Demonstrationen zogen im September durch polnische Großstädte. Die größte in Warschau hatte 7000 Teilnehmer; zur Gegenkundgebung kamen nur halb so viele Menschen. Im Internet herrschen Angst und Hass. Auch in meinem eigentlich offenen und europaorientierten Freundeskreis sehen sich einige durch die Flüchtlinge bedroht.

Die Berichterstattung in den Medien kann einem wirklich Angst machen. Es wird über Stürme auf Ungarns Grenzen berichtet, über die überfüllten Bahnhöfe, Auseinandersetzungen mit der Polizei und Ausbrüche aus Flüchtlingsheimen. Dazu werden Politiker und allerhand "Experten" zitiert. Diese erzählen, dass die Flüchtlinge die Gefahr des Terrorismus mit sich brächten, dass sie die (in Polen nicht gerade großzügige) Sozialhilfe ausbeuten, dass Moscheen gebaut würden und die Gesellschaft sich unwiderruflich verändern würde.

Gerade diese Veränderung der Gesellschaft wird als zwangsweise negativ empfunden. Dabei hat der Durchschnittsbürger zumeist gar keine Vorstellung, wer die Flüchtlinge sind. Das zeigt sich zum Beispiel in den beliebtesten Vorwürfen gegenüber den Ankommenden, nämlich dass sie Smartphones besitzen und teils Markenklamotten tragen. Scheinbar muss, wer ein Markenhandy benutzt und Armani trägt, nicht um sein Leben fürchten.

Verlorene Minderheiten

Wie ist es möglich, dass in einem Land mit fast 40 Millionen Einwohnern die Ankunft von ein paar Tausend Geflüchteten solch eine Panik und solch einen Hass auslöst? Einerseits muss man festhalten, dass sich in Polen 97 Prozent der Bürger als "Polen" bezeichnen (Volkszählung von 2011), mehr als 90 Prozent sind katholisch. Im Vergleich zu anderen Ländern Europas ist Polens Gesellschaft besonders homogen, und die Menschen haben heute nur noch wenig Erfahrung im Umgang mit Minderheiten und fremden Kulturen.

Andererseits sind wir Polen über die ganze Welt verstreut. Selbst in meinem kleinen Dorf in Niederschlesien, wo die meisten polnischen Bewohner 1945 als Flüchtlinge ankamen, gibt es in jeder Familie einen Angehörigen, der irgendwo in Europa oder anderswo auf der Welt arbeitet und lebt. Man könnte denken, dass wenigstens dies den Polen andere Kulturen näherbringen würde.

Vor 1945 lebte der Großteil von Europas jüdischer Minderheit in Polen. Die Gesellschafft war bunter. So sahen sich der (umstrittenen) Volkszählung von 1920 zufolge etwa 70 Prozent der Befragten als Polen, 15 Prozent als Ukrainer, acht Prozent als Juden, vier Prozent als Weißrussen, mehr als drei Prozent als Deutsche. Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich diese Situation. Dabei verstehen sich die Polen gerne als Retter und Beschützer der Verfolgten und betonen gerne, wie sie den Juden während des Holocausts geholfen haben.

Alle Stimmen, die heutzutage auch Grautöne in diesen schwarz-weißen Diskurs von Opfern und Tätern einbringen, werden heftig kritisiert. Letztes Beispiel dafür war der Film "Ida", der 2015 mit einem Oskar ausgezeichnet wurde. Er erzählt die Geschichte eines Mordes an einem Juden, der von einem Polen verübt wurde.

Vor Kurzem sagte die renommierte polnische Schriftstellerinn Olga Tokarczuk während einer Preisverleihung, dass ''Polen seine Geschichte als ein tolerantes, offenes Land kreiert. Ein Land, das nie etwas Schlechtes gegenüber seinen Minderheiten getan hätte. Dabei haben wir furchtbare Sachen gemacht, als Kolonisatoren, als nationale Mehrheit, die Minderheiten unterdrückte oder Juden ermordete".

Seitdem bekommt Tokarczuk Morddrohungen. In den Medien wird sie kritisiert und im Internet so stark angefeindet, dass die Staatsanwaltschaft eingreifen musste. Die meisten Polen möchten ihr Land als eine offene Nation mit toleranter Geschichte sehen. Wer dieses Bild zerstört, dem wird sogar mit dem Tod gedroht. Dabei stimmt die Mehrheit in der Bevölkerung fremdenfeindlichen Parolen zu.

"Solidarität darf nicht erzwungen werden"

Europas Druck, Polen solle mehr Flüchtlinge aufnehmen, wurde hier heftig kritisiert und diskutiert. Polens Ministerpräsidentin Ewa Kopacz von der "Bürgerplattform" wollte gemeinsam mit den Regierungschefs aus Ungarn, Tschechien und der Slowakei (Visegrád-Gruppe) während des EU-Gipfels zur Flüchtlingskrise gegen den Quoten-Vorschlag der EU-Kommission stimmen. Nach dem Druck aus Berlin und Brüssel hat sie sich jedoch bereiterklärt, bis 2017 insgesamt 7000 Flüchtlinge aufzunehmen.

Das hat ihrer Partei einerseits weitere Verluste in den Umfragen eingebracht und andererseits zur verstärkten Kritik an der EU-Politik geführt. In rechten Kreisen wurde die Entscheidung von Kopacz als "Verrat" bezeichnet. Ein schwarzes Bild mit dem weißen Schriftzug "Entschuldigung der polnischen Nation für den Verrat" in allen vier Sprachen der Visegrád-Gruppe wurde im Internet blitzschnell populär.

Das positive Image Europas leidet zurzeit stark in Polen. Beliebtes Argument ist und bleibt, dass "die Solidarität in Europa nicht erzwungen sein darf". Mit einer guten Portion Schadenfreude wird in den Medien über Schlägereien in deutschen Flüchtlingsheimen berichtet. Und die bisher gelobte EU wird offen kritisiert: Viele Polen sehen die aktuelle Krise als Ergebnis falscher europäischer Politik. Dass es so viele Flüchtlinge in Europa gibt, sei auch Schuld der EU, weil einige ihrer Mitglieder die Grenzen geöffnet hätten.

Auch ich habe Angst. Ich habe Angst, dass sich die Menschen, die sich heute im Internet bereiterklären, Flüchtlinge in Polen mit Messern zu begrüßen, diese Drohung morgen wahrmachen. Ich habe Angst, dass die neue Regierung Polens sich von Europa distanzieren und den Schulterschluss mit Ländern wie Ungarn suchen wird. Ich habe Angst, dass sich die ganze politische Debatte so weit nach rechts verschiebt, dass alle Stimmen, die jetzt noch dagegenhalten, am Ende verstummen. Bis jetzt wurde Polen meist von außen bedroht. Jetzt ist es an der Zeit, den wachsamen Blick nach innen zu richten.

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