Polen:Wie Polens Bürger die Demokratie verteidigen

Polen: Eine große Menschenmenge demonstriert am 9. Januar in Warschau gegen das umstrittene neue Mediengesetz.

Eine große Menschenmenge demonstriert am 9. Januar in Warschau gegen das umstrittene neue Mediengesetz.

(Foto: AFP)

Seit Wochen biegt sich die neue Regierung in Warschau Recht und Gesetz so hin, wie es ihr passt. Ein Besuch bei Bürgern, die das nicht mehr mitmachen wollen.

Reportage von Florian Hassel, Warschau

Noch vor Kurzem hätte Anja Marciniak nicht für möglich gehalten, dass sie ihre Freizeit in den Dienst an Polens Demokratie stellen würde. Marciniak, 33 Jahre alt, zurückgekämmte blonde Haare, bunte Brille zu schwarzem Sweatshirt, arbeitet in Warschau bei einer Computerfirma. Deren Geschäft blühte; Polens Wirtschaft und Konsum wachsen, vor allem in Warschau, wo alle paar Monate ein neues Einkaufszentrum eröffnet. Politik interessierte Marciniak nicht. Doch Ende Oktober 2015 wurde in Polen gewählt. Die von Jarosław Kaczyński geführte nationalkonservative Partei namens Recht und Gerechtigkeit (Pis) übernahm die Regierung.

Marciniak hatte die Pis nicht gewählt, doch sie dachte: "Eine neue demokratisch gewählte Regierung hat das Recht zu Änderungen, selbst wenn sie mir nicht passen." Doch als der ebenfalls von der Pis gestellte Präsident Andrzej Duda sich weigerte, legal gewählte Verfassungsrichter zu vereidigen, und als das neue Parlament willfährige Richter wählte und das Verfassungsgericht per Eilgesetz entmachtete, da kam Anja Marciniak ins Grübeln. Musste man nicht etwas unternehmen?

Dann hörte sie, wie der rechtspopulistische Abgeordnete Kornel Morawiecki im Parlament am 25. November den illegalen Machtausbau rechtfertigte: "Über dem Recht steht das Wohl des Volkes. Wenn das Recht dieses Wohl stört, dann dürfen wir es (das Recht) nicht als etwas ansehen, das wir nicht verletzen und ändern können." Und weiter: "Das Recht muss uns dienen! Das Recht, das nicht dem Volk dient, ist Rechtlosigkeit!" Die Abgeordneten der Pis spendeten Morawiecki stehend Applaus.

"Offen zum Verfassungsbruch aufzurufen, das war ein Schritt zu viel für mich", erinnert sich Marciniak, während sie die Januarkälte in einem Warschauer Café mit einem heißen Gewürztee mit Orangenscheiben vertreibt. Marciniak trat dem "Komitee zur Verteidigung der Demokratie" (Kod) bei, das Proteste gegen Rechtsbrüche der neuen Regierung organisiert. Seitdem hat Anja mehrmals demonstriert. Seit dem 12. Dezember brachte das Kod an drei Samstagen jeweils Zehntausende Polen gegen die Gesetzesbrüche auf die Straße - am kommenden Samstag geht Anja auch zur nächsten Runde der Kundgebungen.

Die Protestbewegung schützt sich wie im Kommunismus

Seit zwei Monaten informiert Marciniak im regionalen Bildungsausschuss des Kod ihre Landsleute über das Internet mit Videos und mit einem "ABC der Demokratie" über die Bedeutung eines unabhängigen Verfassungsgerichts und freier Medien. "Wir haben in Polen die staatsbürgerliche Bildung und die Bedeutung von Pluralismus vernachlässigt", sagt Marciniak. "Viele Polen glauben, dass sich ein Wahlsieger alles erlauben darf."

Marciniak ist nicht Anjas echter Familienname. Seit seiner Gründung am 18. November folgt das Kod der schon unter dem Kommunismus erprobten Regel, dass nur die Führungskräfte namentlich auftreten. Schon existieren falsche Kod-Gruppen, legen Hacker Seiten des echten Komitees lahm oder verbreiten in Namen des Kod gefälschte Erklärungen. "Als Administratorin mit allen Zugängen will ich es unseren Gegnern durch die Bekanntgabe meiner Identität nicht noch erleichtern, uns anzugreifen", sagt Anja Marciniak.

Gleichwohl hat der Protest ein mittlerweile in ganz Polen bekanntes Gesicht: Mateusz Kijowski, Informatiker, 47 Jahre alt, 1,90 Meter groß, mit rot-bunter Brille über dem ergrauenden Vollbart; ein Frischluftfan, der sein Motorrad nur im härtesten Winter unwillig gegen U-Bahn oder Auto tauscht. Es war Kijowski, der das Komitee zur Verteidigung der Demokratie am 18. November ins Leben rief, inspiriert von einem Veteran polnischer Proteste. 1976 begehrten Arbeiter gegen Preiserhöhungen des damaligen Regimes auf. Intellektuelle gründeten damals ein Komitee zur Verteidigung der Arbeiter und halfen mit juristischem Rat, Geld und Informationen.

Daran knüpft die Demokratiebewegung nun an. "Viele Polen haben geglaubt, Freiheit und Demokratie seien gesichert, eine starke Zivilgesellschaft sei überflüssig. Das war ein Irrtum", sagt Kijowski im Café des Lesers, einer traditionsreichen Volksküche im Zentrum Warschaus. "Das Verfassungsgericht, die Medien, Geheimdienste und Beamtenapparat - die Pis setzt systematisch alle Sicherungen eines demokratischen Systems außer Gefecht."

Die Regierung wird wahrscheinlich Jagd auf uns machen

Viele Menschen würden das nicht sofort merken, fährt er fort. "Es ist wie mit einer Elektroinstallation: Ohne Sicherungen kann sie eine Zeitlang funktionieren. Aber wenn etwas schiefgeht, sind die Folgen gravierend." Schon hat die neue Regierung ein Gesetz zur lückenlosen Internetüberwachung durch Polizei und Geheimdienst verabschiedet. Ein anderes Gesetz macht die Entlassung von Beamten leichter.

"Es ist wahrscheinlich, dass die Regierung Jagd auf uns machen wird", sagte ein regionaler Koordinator, als Mitte Januar in Łódź zum ersten Mal Kod-Koordinatoren aus ganz Polen zusammenkamen. "Wir werden juristische Unterstützung brauchen. Viele haben Angst."

Mateusz Kijowski selbst hat sich ein dickes Fell zugelegt. Sein E-Mail-Konto wurde schon gehackt, ebenso sein Kreditkartenkonto. Seine Frau Magdalena bekam Anrufe mit Todesdrohungen gegen ihren Mann. Gegner verbreiteten einen gefälschten Aufruf Kijowskis, Pis-Chef Kaczyński zu erschießen - was die Pis im Parlament zum Angriff auf Kijowski nutzte und sich davon auch nicht durch einen Hinweis auf die Fälschung abbringen ließ. Interviewanfragen lässt die Pis ohne Antwort.

"Unsere Gegner versuchen jetzt, uns zu diskreditieren", sagt Kijowski, "etwa mit Verleumdungen, die Gruppe bestehe aus Kommunisten, sie vertrete die Interessen Deutschlands oder würde vom US-Milliardär George Soros finanziert." Dass Kijowski sich mit seiner Frau aus erster Ehe über die Höhe und Zahlung von Alimenten juristisch auseinandersetzt, wird von Polens rechten Medien als angeblicher Beleg für mangelnde politische Glaubwürdigkeit präsentiert.

Am Montag ist Kijowski mit Kod-Kollegen nach Paris geflogen, per Zug ging es weiter nach Straßburg. Dort treffen sie an diesem Dienstag vor und nach der Debatte zum Thema "Polen" Mitglieder des Europäischen Parlaments - und wohl auch Martin Schulz. Der Präsident des Europäischen Parlaments wird von Polens Rechten seit seiner Kritik am fragwürdigen Kurs Warschaus als angeblicher Staatsfeind geschmäht. Kijowski weiß, dass ihn Polens Rechte nach Treffen in Straßburg als Verräter bezeichnen wird. "Normalerweise löst man seine Probleme besser selbst. Wenn man Probleme mit seiner Frau hat, sollte man mit ihr diskutieren, anstatt die Nachbarn zu Hilfe zu rufen. Aber wenn jemand aggressiv vorgeht, gibt es manchmal keine Alternative", sagt er.

Zustimmung auf Facebook ist eine Sache, aktive Unterstützung eine andere

Polen habe europäische Ideen akzeptiert, Verträge unterschrieben - "und jetzt brechen wir die Regeln und schließen uns selbst aus der Gemeinschaft aus. Wir brauchen Unterstützung von Europa, von den USA und der gesamten demokratischen Welt, wenn wir einen Ausweg finden wollen." Den Wahlerfolg der Pis erklärt Kijowski mit Versäumnissen der letzten Regierung. "Unsere Politiker haben sich für die Bosse gehalten und die Polen als Stimmvolk angesehen. Die in den letzten acht Jahren regierende Bürgerplattform hat den Menschen kein Gemeinschaftsgefühl gegeben - diese Lücke hat die Pis genutzt. Und sie hat einen ausgezeichneten Wahlkampf geführt und den Leuten nicht gesagt, was sie tun würde, sondern das, was diese hören wollten."

Nur ein Viertel der Polen unterstützte die Regierung bei ihrem Angriff auf das Verfassungsgericht - doch 40 Prozent begrüßt die Proteste des Kod. Auf Facebook kommt das Komitee mittlerweile auf 130 000 Anhänger. Doch Zustimmung auf Facebook ist eine Sache, aktive Unterstützung eine andere. Der Übergang von der Organisation einiger Demonstrationen zur dauerhaften Demokratiebewegung steht aus. Noch ist das Komitee nicht offiziell registriert - was Voraussetzung für Organisation und Finanzierung wäre. Um die Pis zu beeindrucken, müssten Kijowski und Mitstreiter nicht Zehn-, sondern Hunderttausende auf die Straße bringen. Bei der letzten Protestrunde Mitte Januar demonstrieren rund 20 000 Menschen in Warschau.

Der Widerstand regt sich vor allem bei Polen, die älter als 50 Jahre sind

In der 700 000-Einwohner-Stadt Łódź begrüßen Kijowski gerade knapp 1000 Menschen, als er per Roller am Sitz des polnischen Fernsehens ankommt. Tags zuvor hat sich die neue Regierung das öffentlich-rechtliche Fernsehen und das Radio unterstellt. Kijowski ruft nun zur Verteidigung der Medien auf, die Menge singt nach der Nationalhymne Beethovens "Ode an die Freude", die Hymne Europas. Doch nicht nur in Łódź sind die meisten Demonstranten 50 Jahre oder älter. Kijowski gibt sich gelassen: "Wenn eine Demokratie bedroht ist, erkennen dies zuerst vor allem Menschen, die andere Zeiten erlebt haben." Mittlerweile kämen auch Jüngere. "Der Protest wird wachsen."

Am Arbeitsplatz von Aktivistin Anja Marciniak hat sich schon die erste Kollegin angeschlossen. Künftig will das Kod auch Versammlungen in kleinen Städten organisieren, um Bürger ohne Internetanschluss darüber zu informieren, was in Warschau vorgeht.

Der Machtausbau der neuen Regierung geht weiter, schon will die Pis auch Gerichte und Staatsanwälte stärker kontrollieren. Kijowski hat beim Parlamentspräsidenten einen eigenen Entwurf für ein Gesetz über das Verfassungsgericht eingereicht, das die Vollmachten des Gerichtes wieder erweitern würde. Kann das Komitee in den kommenden Monaten in Polen 100 000 Unterschriften für diese Initiative sammeln, muss das Parlament den Gesetzentwurf beraten. Dass die Pis dieses neue Gesetz annehmen würde oder dass Pis-Chef Kaczyński seinen Kurs bei noch größeren Protesten ändere, glaubt Kijowski indes nicht. "Polen steht jetzt außerhalb des Gesetzes. Wir werden viele Jahre arbeiten und die Menschen aufklären müssen. Wahrscheinlich müssen wir uns eines Tages wieder an einen runden Tisch setzen, um zu diskutieren, wie wir Demokratie und Freiheit in Polen wiedererrichten."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: