Polen und Russland:Trauer, Diplomatie und eine böse Befürchtung

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Mitgefühl und politisches Fingerspitzengefühl: Russland trauert um Lech Kaczynski und hofft, das Misstrauen der Polen zu zerstreuen. Gerüchte befeuern unterdessen eine Theorie, die Polen in eine Staatskrise stürzen könnte.

Sonja Zekri

Sie sind die ersten am Sonntagmorgen, und anfangs sind sie die einzigen. Aber schon jetzt erstreckt sich zu Füßen von Anatolij und Margarita Tereschenko, zu Füßen der polnischen Botschaft in Moskau, ein Blumenmeer. Im Zaun hängt ein Schal in polnischem Rotweiß und ein selbstgeschriebenes Gedicht: "Hol die Gläser, wir trinken Wodka auf die Ulane", die polnischen Lanzenreiter.

Nicht, dass die Tereschenkos große Anhänger des toten polnischen Präsidenten Lech Kaczynski gewesen wären, Lech Kaczynskis, der als Präsident nie in Moskau war, der sich im Georgien-Konflikt 2008 auf die Seite Tiflis' geschlagen hatte und einen Platz in Warschau nach dem tschetschenischen Rebellenführer Dschochar Dudajew benannte, jener Kaczynski, der das EU-Russland-Abkommen torpediert hatte und die Ostseepipeline verhindern wollte.

"Der Schmerz vereint die Völker"

"Er hat alles getan, um Polens Verhältnis zu Russland zu trüben", sagen die beiden Alten. Und dennoch: "Die Toten waren so jung, so klug. Der Schmerz vereint die Völker. Polen ist unser nächster Nachbar. Sie sind Slawen wie wir." Ginge es nach den Tereschenkos, würde Moskau die Tragödie nutzen, um seine Beziehung zu Polen endlich ins Reine zu bringen.

Wenige Stunden später haben sich Hunderte vor der Botschaft versammelt und stehen für einen Eintrag ins Kondolenzbuch an. Es ist derselbe Ort, wo die Kremljugend gegen Polen demonstrierte wegen des inzwischen abgesagten US-Raketenschildes, wegen Differenzen über die Geschichte und wegen allem anderen, was beide Völker sonst trennt.

Und jetzt das. Jetzt diese Anteilnahme. Russlands Präsident Dmitrij Medwedjew hat eine Rede an das polnische Volk gehalten und hat für Montag einen Trauertag angeordnet, Nationaltrauer für die Opfer eines fremden Volkes.

Am Unglücksort in Smolensk sagte ein Pole dem russischen Fernsehen: "Sobald jemand hier hört, dass wir polnisch reden, spricht er uns sein Beileid aus."

Am Sonntag hielt die katholische Kathedrale in Moskau einen Trauergottesdienst in polnischer Sprache ab. Am Sonntagabend sollte im Fernsehen erneut Andrzej Wajdas Film "Katyn" gezeigt werden über die Erschießung polnischer Offiziere durch den sowjetischen Geheimdienst, Polens erste Tragödie an diesem Ort, ein Grund des Zerwürfnisses mit Moskau.

"Dies ist auch unsere Tragödie"

Aber nichts verkörperte die emphatische Aufwallung mehr als ausgerechnet Premier Wladimir Putin, der einen gebrochenen Donald Tusk an der Absturzstelle umarmt, stützt und ausnahmsweise die richtigen Worte findet: "Dies ist auch unsere Tragödie."

Die Geste mag von Mitgefühl motiviert sein oder von Sympathie für Tusk, sicher aber auch von politischem Instinkt. Russland bemühte sich zuletzt sehr um Polen, auch aus Wirtschaftsinteressen.

Aber Polens zweites Katyn, die zweite nationale Tragödie auf russischem Boden, an jenem Ort, der wie kein anderer für den russischen Terror gegen den polnischen Nachbarn, für Vertuschung, Verschweigen und Jahrzehnte der Lüge steht, kann beide Länder zueinander führen oder für lange Zeit trennen.

Denn selbst wenn es so war, wie die russischen Behörden erklärt haben, wenn der Pilot der Tupolew Tu-154 trotz Nebel zu landen versucht hatte gegen die ausdrückliche Anweisung des Militärflughafens in Smolensk, wenn er beim vierten Versuch die Wipfel der Bäume berührte und abstürzte, so liegt an diesem Ort die Beweislast doppelt auf russischer Seite.

Gegen das polnische Misstrauen schützt Russland nur, was es bei der Aufklärung des historischen Verbrechens in Katyn bis heute verweigert: absolute Transparenz.

Deshalb hat sich Putin demonstrativ an die Spitze der Untersuchungskommission gesetzt. Deshalb erforschen polnische und russische Experten gemeinsam die Unglücksstelle in Smolensk, wo das Wrack noch eine Woche liegen bleiben soll, deshalb werten sie in Moskau gemeinsam die beiden Flugschreiber aus.

Kaczynski Opfer seiner eigenen Russenphobie?

Erste Untersuchungen haben ergeben, dass die Maschine technisch intakt war, so die russische Staatsanwaltschaft. Aber wann abschließende Ergebnisse vorliegen, ist offen.

Vor zwei Jahren war Kaczynski mit einem Piloten aneinandergeraten, der während des Georgienkonfliktes aus Sicherheitsgründen nicht in Tiflis, sondern in Baku landen wollte. Der Pilot wurde später entlassen. Sollten die Flugschreiber nun Hinweise darauf geben, dass der Fall in Smolensk ähnlich lag, dass der Pilot unter Druck stand, weil sich Kaczynski weder vom Wetter noch von russischen Behörden den Weg nach Katyn versperren lassen wollte, dann wäre der Präsident nicht nur Opfer seiner eigenen Russophobie geworden, dann hätte er die Elite Polens auf dem Gewissen und die Tragödie würde in eine Staatskrise umschlagen.

Noch aber sind dies nur Gerüchte. Noch sind nicht einmal alle 97 Opfer identifiziert, von denen die meisten mit Sonderflügen aus Smolensk ins Gerichtsmedizinische Institut in Moskau gebracht wurden, viele verbrannt, zerrissen, unkenntlich.

Am Sonntagabend erwartete Moskau die ersten Angehörigen, stellt Hotels, Transport, psychologische Betreuung. "Die Hilfe und Unterstützung der Moskauer Führung sind enorm", sagte Jerzy Bahr, der polnische Botschafter in Moskau.

Die Leiche Kaczynskis wurde am Sonntagnachmittag mit militärischen Ehren nach Warschau ausgeflogen. Nicht nur Putin legte am Sarg eines seiner größten Kritiker Blumen nieder. Auch die Menschen in Smolensk, von denen viele über Jahrzehnte und manche bis heute nicht über das sowjetische Massaker an der polnischen Elite reden wollten, klemmen Rosen in den Zaun am Militärflughafen in Smolensk, in der Nähe von Katyn.

© SZ vom 12.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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