Polen:Ohne Rechtsstaat ist alles nichts

Auf diese Formel bringt es die EU-Kommission in einer Analyse zu Polens Justizreform. Wenn eine Regierung die Gewaltenteilung so aushöhlt, habe das Folgen für alle.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Manchmal muss man in der Politik bei Adam und Eva anfangen. Etwa bei Montesquieu, der im 18. Jahrhundert die für moderne Demokratien grundlegende Idee der Gewaltenteilung entwickelte. Mit seiner Forderung, die gesetzgebende, die vollziehende und die richterliche Gewalt streng zu trennen, reagierte der Franzose auf die Konzentration der Macht im Absolutismus. Voneinander unabhängige Gewalten verstand er als Schutz vor Willkür. "Es wäre nämlich zu befürchten, dass derselbe Monarch oder derselbe Senat tyrannische Gesetze erließe und dann tyrannisch durchführte", schrieb er in "Vom Geist der Gesetze".

In Brüssel schien Montesquieus Geist in dieser Woche zu wehen, so grundsätzlich ging es zu, als sich die EU-Kommission mit den jüngsten Plänen der polnischen Regierung zur Reform der Justiz beschäftigte und Gegenmaßnahmen ankündigte, über die im Detail kommende Woche entschieden werden soll. Der Autor der internen Analyse, auf die sich die Behörde stützt, fängt ganz vorn an, Staatsrecht für Anfänger. Rechtsstaat, das bedeute, dass sich alle innerhalb der vom Recht gesetzten Grenzen zu bewegen haben, auch die Gesetzgeber selbst. Der Rechtsstaat sei ein "inhärenter Teil jeder demokratischen Gesellschaft", wird die Venedig-Kommission des Europarats zitiert. Gleichzeitig sei die Anerkennung des Rechtsstaatsprinzips eine Bedingung für die Mitgliedschaft in der EU. Denn nur dann könnten Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde, überhaupt alle Grundrechte geschützt werden, auf denen die Union wesentlich basiert. Ohne Rechtsstaat ist alles nichts.

Inzwischen laufen 122 Vertragsverletzungsverfahren gegen die polnische Regierung

Aber könnte die EU das Land Polen nicht einfach seinem Schicksal überlassen? Warum mischt sie sich ein? Weil die Union mehr ist als ein Verbund von Nationalstaaten zum Zwecke der Wirtschaftsförderung, sondern eine Werte- und Rechtsgemeinschaft. Deshalb kann es ihr keinesfalls egal sein, wenn der Rechtsstaat in einem ihrer Teile wackelt. Denn das hätte praktische Folgen - für alle. Wenn das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz in einem einzigen Mitgliedstaat verloren gehe, werde das Funktionieren des gesamten Binnenmarkts der EU gefährdet, heißt es in dem Papier. Außerdem ist Polen auch Teil des Schengengebiets, eines grenzfreien Raums der Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit. Der funktioniere nur, wenn, etwa bei der Strafverfolgung, Richter den Entscheidungen ihrer Kollegen grenzüberschreitend vertrauen. Das setzt voraus, dass sie unabhängig sind. Im Grunde ist jeder Europäer betroffen, wie das "Verfassungsblog" am Beispiel des Satire-Disputs zwischen Jan Böhmermann und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan verdeutlicht hat: Nähme der Komiker Polens starken Mann Jarosław Kaczyński ins Visier, könnte eine mögliche Willfährigkeit polnischer Richter auch die Meinungsfreiheit in Deutschland beschneiden.

Die EU mischt sich also ein. Obwohl schon halb im Urlaub, haben die Brüsseler Institutionen für ihre Verhältnisse blitzschnell reagiert. EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani schrieb sofort nach Bekanntwerden der jüngsten Warschauer Pläne zur Justizreform einen scharfen Brief, ebenso Kommissionsvize Frans Timmermans, der seine Empörung auch öffentlich äußerte: "Diese Gesetzgebung könnte das Risiko beinhalten, die polnische Justiz zu politisieren, indem sie die Kontrolle über Ernennungen und Karrieren (...) in die Hände von Abgeordneten oder Ministern legt." Am Donnerstagabend forderte schließlich EU-Ratspräsident Donald Tusk den polnischen Präsidenten Andrzej Duda zu einem dringenden Treffen auf. Was dessen Partei Recht und Gerechtigkeit plane, schrieb der frühere polnische Premierminister, "transportiert uns - politisch gesehen - in Zeit und Raum nach hinten und nach Osten." Mit anderen Worten: zurück in Sowjetzeiten.

Gefruchtet haben diese und viele andere Appelle so wenig wie der Protest Zehntausender polnischer Bürger. Die Gesetze sind verabschiedet, und niemand in Brüssel bezweifelt, dass Duda seine Unterschrift unter sie setzen wird. Der Schaden ist angerichtet, am kommenden Mittwoch wird sich die Kommission dazu verhalten. Es wird neue Vertragsverletzungsverfahren geben. Man könnte etwa beanstanden, dass die Pläne zur Frühverrentung von Richterinnen gegen die EU-Antidiskriminierungsrichtlinie verstoßen. Aber gegen Polen laufen 122 andere solcher Verfahren, und es ist unwahrscheinlich, dass ein Bußgeldbescheid des Europäischen Gerichtshofs sie von ihrem Plan abbringen würde.

Die stärkste Waffe der EU, das Verfahren nach Artikel 7, das in einen Entzug der Stimmrechte münden könnte, wird hingegen wohl noch nicht angewendet. Die meisten EU-Politiker meinen, man müsse sich, bevor man mit der "Atombombe" drohe, erst der Loyalität des ungarischen Premiers Viktor Orbán versichern, der sein Veto angekündigt hat. Der EU stehe keine Wunderwaffe zur Verfügung, sagt die Abgeordnete Rebecca Harms (Grüne). Es seien die Polen selbst, die das Problem über Wahlen lösen könnten. "Ich bin sicher, dass sie in einer demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft leben wollen."

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