Polen:In erster Lesung durchgerutscht

Das ohnehin strenge polnische Abtreibungsrecht könnte noch restriktiver werden - Polens Parlament verabschiedete einen entsprechenden Entwurf. Das bringt den konservativen PiS-Parteichef Kaczyński in eine Zwickmühle.

Von Florian Hassel, Warschau

Es war ein eindeutiges Versprechen, das die Partei Recht und Gerechtigkeit (Pis) den Polen gab, bevor sie im Herbst 2015 die Parlamentswahl gewann und die Regierung übernahm: Gesetzesentwürfe, die nach einem Bürgerbegehren das Parlament erreichten, würden keinesfalls direkt abgelehnt - sondern zumindest in erster Lesung angenommen und zur weiteren Beratung in die Fachausschüsse des Parlaments überwiesen.

Die ultrakonservative Vereinigung "Pro - Recht auf Leben", als Gegner von Abtreibung, künstlicher Befruchtung und gleichen Rechten für Homosexuelle bekannt, ließ sich dies nicht zweimal sagen. Bis Mitte September sammelte sie 460 000 Unterschriften für eine Verschärfung des Abtreibungsrechts. Zwar ist in Polen schon jetzt Abtreibung nur nach Vergewaltigungen oder bei Gesundheitsrisiken für die Frau erlaubt. Weil viele Ärzte sich weigern, selbst dieses restriktive Recht anzuwenden, finden immer mehr Abbrüche abseits der medizinischen Einrichtungen statt. Polinnen, die es bezahlen können, fahren zur Abtreibung in andere Länder. Der "Recht auf Leben"-Gesetzentwurf aber sieht das vollständige Verbot von Abtreibung vor, bei Strafen von bis zu fünf Jahren Gefängnis für alle Beteiligten - auch für die Frau.

Einzige Ausnahme: Wenn akute Lebensgefahr für die Frau droht. Die überwältigende Mehrheit der Polen - dem Meinungsforschungsinstitut CBOS zufolge mehr als 70 Prozent - ist gegen ein so umfassendes Abtreibungsverbot. Auch die katholische Bischofskonferenz unterstützt es nicht - schließlich sei "das Leben jedes Menschen ein Grundwert und unverletzlich", also auch das der Frau. Pis-Parteichef Jarosław Kaczyński ist gleichfalls gegen ein völliges Verbot von Abtreibung, er fürchtet, Wählerinnen zu vergraulen.

Andererseits gehören die meist männlichen Fundamentalisten von "Recht auf Leben" zu den Stammwählern der Pis - daher deren Unwille, das umfassende Abtreibungsverbot bei der Abstimmung am vergangenen Freitag direkt abzulehnen. Stattdessen schickten die Abgeordneten den Entwurf zur weiteren Beratung in die Parlamentsausschüsse - ein bewährtes Verfahren, um Gesetzentwürfe zu beerdigen.

Doch die Abstimmung vom vergangenen Freitag verlief nicht wie von den Fraktionschefs geplant. Eigentlich sollte ein konkurrierender Gesetzentwurf für ein liberaleres Abtreibungsrecht, den mehr als 210 000 Polen unterschrieben hatten, ebenfalls in die Ausschüsse geschickt werden. Dort sollten die konkurrierenden Entwürfe als Rechtfertigung dafür dienen, keinen von ihnen anzunehmen - und das Abtreibungsrecht zu belassen, wie es ist. Doch Dutzende Parlamentarier, die den Zorn der Fundamentalisten fürchteten, hielten sich nicht an die inoffiziellen Vorgaben - sie nahmen das Abtreibungsverbot in erster Lesung an und lehnten den liberalen Entwurf ab. Die regierende Pis, die in den Ausschüssen bestimmt, muss nun einen Weg finden, wie sie das ungewünschte Komplettverbot umgeht. Oder aber sie nimmt es an - und legt sich mit Millionen polnischen Frauen an.

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