Polen:Druck der Straße

Viele Polen schauen fassungslos auf ihre neue Regierung, die sich mit dem Verfassungsgericht anlegt. Weit mehr Menschen als erwartet demonstrieren dagegen.

Von Florian Hassel, Warschau

Es sollte ein erstes Zeichen des Protestes sein, zu dem die Mitglieder des neuen Komitees zur Verteidigung der Demokratie in die Warschauer Szucha-Straße, den Sitz des Verfassungsgerichtes, geladen hatten. Mit 2000 Demonstranten hatten sie gerechnet, um gegen die Regierung, für die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts und die damit verbundene Gewaltenteilung zu protestieren. Beide sind aus Sicht vieler Polen bedroht, seit sich die nationalkonservative Regierung der Partei "Recht und Gerechtigkeit" (Pis) unter ihrem Führer Jarosław Kaczyński weigert, rechtmäßig gewählte Verfassungsrichter zu vereidigen und gegen die Regierung ausfallende Urteile des Verfassungsgerichtes zu befolgen.

Doch als der Protest am Samstag begann, kamen statt 2000 etwa 10 000 Menschen. "Wir sind gekommen, weil uns nicht gefällt, was in Polen vor sich geht", rief Mitorganisator Mateusz Kijowski. "Wir sind zum Verfassungsgericht gekommen, das heute am stärksten bedroht ist, wir sind gekommen, um die Unabhängigkeit des Gerichts zu verteidigen." Später zogen die Demonstranten zum Parlament und zum Amtssitz von Präsident Andrzej Duda. Insgesamt nahmen etwa 50 000 Polen an den Protesten teil. Auch in Breslau, Lublin und anderen Städten protestierten Tausende Menschen gegen die neue Regierung.

Auch die Pis demonstrierte: Zu einer Mahnkundgebung anlässlich des Jahrestag der Verhängung des Kriegsrechts im kommunistischen Polen kamen am Sonntag mehrere Tausend Menschen nach Warschau. Pis-Chef Kaczyński machte die Kundgebung zur Unterstützungsdemonstration für seinen Kurs. Doch Umfragen zufolge hat die Pis nur wenige Wochen nach ihrem Wahlsieg, errungen mit Versprechen über mehr Kindergeld oder die Senkung des Rentenalters, bei ihrem Angriff auf die Justiz nur wenige Polen hinter sich.

Nur knapp ein Viertel der Polen unterstützt den Regierungskurs

Einer am Sonntag veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes IBRiS zufolge sehen bei der Auseinandersetzung um das Verfassungsgericht nur knapp 23 Prozent der Polen die Pis im Recht. Knapp ein Drittel hat sich noch keine eindeutige Meinung gebildet. Doch fast 47 Prozent der Polen geben der Opposition und den Verfassungsrichtern recht, die das Vorgehen der neuen Regierung als Verfassungsbruch und Versuch werten, die Unabhängigkeit der Richter und ihre Aufsicht über die Politik zu brechen.

Die nationalkonservative Regierung, faktisch nicht von Ministerpräsidentin Beata Szydło geführt, sondern von Pis-Chef Kaczyński, lässt bisher keine Richtungsänderung erkennen. Szydlos Kanzleichefin verweigert die Veröffentlichung eines Urteils des Verfassungsgerichts - wegen angeblicher Verfahrensfehler, die das Urteil "ungültig" machten. Tatsächlich erlaubt weder Polens Verfassung noch irgendein Gesetz der Regierung eine "Prüfung" von Urteilen des Verfassungsgerichtes. Doch Kaczynski zufolge "bricht das Verfassungsgericht das Recht". Noch in diesem Jahr werde das Parlament ein neues Gesetz über das Verfassungsgericht beschließen. Es wäre der zweite Versuch des neuen Parlaments in nur wenigen Wochen, sich das Verfassungsgericht faktisch unterzuordnen.

Im November verabschiedete das neue Parlament ein Gesetz, das die Amtszeit des Verfassungsgerichtspräsidenten und seiner Stellvertreter von neun auf drei Jahre verkürzen und ihre Bestätigung vom - ebenfalls von der Pis gestellten - Präsidenten abhängig machen will. Die Verfassungsrichter erklärten dies für verfassungswidrig. Auch das Urteil ist von der Regierung noch nicht veröffentlicht worden.

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