Polen:Den Toten keine Ruhe

Lesezeit: 2 min

Pis-Chef Kaczyński lässt seinen Bruder exhumieren - obwohl Untersuchungen bewiesen, dass dessen Absturz mit einem Flugzeug ein Unfall war.

Von Florian Hassel, Warschau

Der 15. Oktober ist für polnische Gerichtsmediziner der Auftakt zur Aufklärung lang zurückliegender Kriminalfälle: Erst von diesem Tag an (und bis zum 15. April, solange es kühl ist) ist auf Polens Friedhöfen die Exhumierung von Leichen erlaubt, die auf Spuren möglicher Verbrechen untersucht werden sollen. Die Gerichtsmediziner bekommen nun allerhand zu tun: Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Pis) und sein Gefolgsmann, Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro, haben beschlossen, die sterblichen Überreste all derer aus ihren Gräbern holen zu lassen, die starben, als am 10. April 2010 das Flugzeug von Lech Kaczyński beim Anflug auf das russische Smolensk abstürzte. Neben Polens damaligem Präsidenten starben 95 weitere Passagiere und Crewmitglieder.

Lech und seine Frau Maria, die in einem Sarkophag in einer Krakauer Kathedrale ruhen, würden mit als Erste exhumiert, verkündete Jarosław Kaczyński, Lechs Zwillingsbruder. Auch die sterblichen Überreste der anderen Opfer sollen aus ihren Gräbern geholt werden, bekräftigte kürzlich die Sprecherin des Generalstaatsanwalts. Die Exhumierungen und Untersuchungen seien Kaczyński zufolge notwendig, um endlich die wahre Unglücksursache festzustellen.

Tatsächlich ist diese längst geklärt: Sowohl Polens staatliche Untersuchungskommission zur Aufklärung von Flugzeugunglücken wie die Militärstaatsanwaltschaft kamen in jahrelangen, von ausländischen Experten als vorbildlich bezeichneten Untersuchungen zu dem eindeutigen Ergebnis, der Flugzeugabsturz sei ein Unglück gewesen. Viele Leichen der Opfer wurden bereits damals ergebnislos auf Spuren von Sprengstoff untersucht. "Es gibt keinerlei Grund für eine Exhumierung", sagte Maciej Lasek, der Chef der Untersuchungskommission, der Süddeutschen Zeitung im August. "All dies ist nur ein zynisches politisches Manöver."

Laseks Expertise spielt freilich keine Rolle mehr: Im September wurde die Untersuchungskommission aufgelöst. Jetzt sollen die Exhumierungen offenbar die vor allem von Kaczyńskis Vertrautem Antoni Macierewicz, dem heutigen Verteidigungsminister, verbreitete Verschwörungstheorie am Leben halten, bei der Tragödie von Smolensk habe es sich um ein Attentat des Kreml gehandelt - möglicherweise gar in Absprache mit Polens damaliger Regierung unter Donald Tusk, dem heutigen Vorsitzenden des Europäischen Rates. In einem Interview im Oktober sagte Kaczyński, Tusk gehöre auf die Anklagebank. Den Magazinen Polityka und Newsweek zufolge sind Anklagen gegen Oppositionspolitiker wie Tusk in Vorbereitung.

Ein Jahr nach ihrem Wahlsieg ist die Pis Umfragen zufolge auf nur noch 29 Prozent Zustimmung abgerutscht. Die Propagandaoffensive zu Smolensk mitsamt den Exhumierungen soll offenbar von anderen Themen ablenken und die Opposition in der Defensive halten. Dabei könnte sich Kaczyński allerdings verkalkulieren. Die Totenruhe ist auch in Polen ein hohes Gut. Nach Umfragen lehnen neun Zehntel der Polen die Exhumierung ab. Selbst unter Pis-Wählern sind es fast vier Fünftel.

Angehörige von in Smolensk Gestorbenen protestierten gegen eine Exhumierung. Die Generalstaatsanwaltschaft allerdings bekräftigte, die Zustimmung der Angehörigen sei nicht erforderlich - sie würden lediglich über den Zeitpunkt informiert.

© SZ vom 20.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: