Polen:Brüssel leitet Bestrafung ein

Es ist ein beispielloser Vorgang in der Geschichte der EU. Erstmals startet die Kommission ein Sanktionsverfahren gegen ein Mitgliedsland. Grund: Warschau baut den Rechtsstaat ab.

Von Alexander Mühlauer, Brüssel

Die Europäische Kommission hat ein beispielloses Strafverfahren gegen das Mitgliedsland Polen eingeleitet. Die nationalkonservative Regierung in Warschau habe mehrere Gesetze verabschiedet, die "eine ernsthafte Gefahr für die Unabhängigkeit der Justiz und der Gewaltenteilung darstellen", sagte Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans am Mittwoch in Brüssel. Die Behörde setzte deshalb erstmals in der Geschichte der Gemeinschaft ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags wegen der "eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung" der Rechtsstaatlichkeit in Gang.

Polens Staatsführung zeigte sich jedoch nicht beeindruckt, setzte im Gegenteil auf weitere Konfrontation: Staatspräsident Andrzej Duda unterzeichnete noch am Mittwochabend die Reformen des Obersten Gerichts und des Nationalen Justizrats. Die Gesetze, in denen die EU eine Aushebelung der Gewaltenteilung sieht, traten somit in Kraft. Duda sagte anschließend in einer Fernsehansprache: "Wir führen in Polen sehr gute Lösungen ein, die das Justizwesen effizienter machen." Der historischen Entscheidung in Brüssel und der Reaktion in Warschau ging ein zwei Jahre andauerndes Ringen voraus: Mehrfach hatte die EU-Kommission die polnische Regierung zu Korrekturen aufgefordert. Trotzdem seien insgesamt 13 Gesetze erlassen worden, die die Unabhängigkeit der Justiz "komplett hinfällig" machten, erklärte Timmermans. Gemeinsames Muster jener Reformen sei, dass sie der regierenden Mehrheit die Möglichkeit gegeben hätten, "systematisch" in das Justizsystem einzugreifen und es damit auszuhöhlen. Ein Dialog mit Warschau sei jedoch leider gescheitert, sagte Timmermans. Die Brüsseler Behörde habe als "Hüterin der Verträge" keine andere Wahl mehr gehabt, als "schweren Herzens" das Sanktionsverfahren einzuleiten. Als Nächstes müssten nun das Europäische Parlament und vier Fünftel der EU-Staaten zustimmen, also mindestens 22 Mitgliedsländer. Dies gilt in Brüssel als möglich und würde als empfindliche Strafe für Polen gewertet: Noch kein EU-Mitglied wurde derart an den Pranger gestellt. Den Entzug der Stimmrechte muss Warschau allerdings nicht befürchten. Dem müssten - mit Ausnahme Polens - alle EU-Staaten zustimmen. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat bereits sein Veto angekündigt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hingegen hatte ihre Unterstützung für die Kommission erklärt, sollte sich diese dazu "genötigt" sehen, das Verfahren einzuleiten. Ähnlich äußerte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker teilte mit, dass er Ministerpräsident Mateusz Morawiecki für den 9. Januar zum Gespräch eingeladen habe. Der polnische Premier schrieb auf Twitter: "Die Justizreform in Polen ist unerlässlich." Sein Land sei genauso wie die EU an Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gebunden. Kommissionsvizepräsident Timmermans sagte am Mittwoch, die Behörde sei weiter offen für Gespräche mit Polens Regierung. Schließlich gehe es um "die Existenz der Europäischen Union - es geht darum, wer wir sind".

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