Piraten diskutieren übers Schwarzfahren:Selbstschussanlagen unter sich

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Sollen Schwarzfahrer in den Knast - selbst wenn sie arm und süchtig sind? Bei der Diskussion der Berliner Piraten zum Thema entgleitet den Teilnehmern die Debatte. Nach einem Jahr im Abgeordnetenhaus lässt die Partei sozialpolitische Ideen vermissen.

Jannis Brühl, Berlin

Christopher Lauer kokettiert so gern. Zum Beispiel mit seiner Rolle als vermeintlich neutraler Moderator dieser Podiumsdiskussion. Es geht um einen Antrag der Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus: "Kein Knast für Schwarzfahrer." Lauer ist allein durch seine Zugehörigkeit zu eben dieser Fraktion schon parteiisch. Aber das Offensichtliche abzustreiten, hat komödiantisches Potenzial. Deshalb sagt er Sachen wie: "Wenn ich für den Antrag wäre, was ich natürlich nicht bin ..." Dafür erntet er Lacher.

Zuständig für Fraktionsleitung und Entertainment: Christopher Lauer (Foto: dapd)

Der 28-Jährige lässt es sich nicht nehmen, von seinem Platz am Rand des Podiumstisches aus immer wieder Witze einzustreuen. Mit dieser Art, sich in den Vordergrund zu drängen, nervt er mittlerweile viele in der eigenen Partei. Er verstoße gegen das Ideal der Piraten, Themen statt Personen in den Vordergrund zu stellen. Zuletzt nahmen ihm seine Parteifreunde übel, dass er im Alleingang einen Gesetzentwurf zum Urheberrecht veröffentlichte. Die Debatte um Lauer gehört zu den wenigen Dingen in der Fraktion, über die nach exakt einem Jahr der Piraten im Abgeordnetenhaus geredet wird.

Schwarzfahren entkriminalisieren, das ist ein Piraten-Thema, klingt irgendwie sozial und irgendwie umsonst. Im Wahlkampf hatte die Partei unter anderem damit geworben, "mittelfristig eine unentgeltliche Nutzung" des Nahverkehrs für alle Berliner einzuführen. Mit der Umsonst-Kultur will die Partei aber nicht in Verbindung gebracht werden.

Mittlerweile sind greifbare Themen rar. Vor exakt einem Jahr gewannen die Piraten 8,9 Prozent und zogen mit 15 Abgeordneten in das Berliner Parlament ein. Dort zeigte sich, dass eine Partei, die sich auf wenige Kernthemen wie Datenschutz konzentriert, zu vielen anderen Themen schweigt: Die Grünen, ebenfalls Oppositionspartei, stellten im vergangenen Jahr doppelt so viele Anträge und Anfragen an die rot-schwarze Koalition. Der taz zufolge fragte selbst die CDU-Fraktion öfter bei der Regierung nach - obwohl sie ihr selbst angehört. Kann die Partei nun den öffentlichen Nahverkehr als relevantes Thema besetzen?

In einer weniger lustigen Rolle als Lauer, dafür aber umso mutiger, ist Thomas Hilpert. Der Jurist ist für den Verband Deutscher Verkehrsunternehmer gekommen. Er gibt den Bürgerlichen, der die alte Ordnung gegen die Revolutionäre mit der Totenkopfflagge verteidigen muss. Er hat eine schwierige Aufgabe zu meistern - Hilpert muss erklären, warum der Staat als letzte Drohkulisse die sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe braucht.

Sie ermöglicht es, chronische Schwarzfahrer ins Gefängnis zu stecken, wenn sie die 40 Euro fürs Erwischtwerden nicht zahlen können. Die Aufgabe wird nicht dadurch erleichtert, dass Hilpert im Branchensprech Fahrzeuge "Beförderungsgefäße" nennt und Fahrgäste "Beförderungsfälle".

In der Debatte geht es durcheinander. Moral, Gerechtigkeit und Spekulationen, wie viele Menschen denn überhaupt noch zahlen würden, wenn sie denn nicht mehr müssten. Dazu kommen holprige Vergleiche zwischen illegalen Musik-Downloads und Schwarzfahren. Einen Unterschied bringt aber Rechtsanwalt Olaf Heischel ins Spiel, der sich für milde Strafen für Unterprivilegierte einsetzt. Er weist zu Recht darauf hin, dass chronisches Schwarzfahren Symptom eines ernsten gesellschaftlichen Problems ist: Armut und Sucht. Er zitiert Statistiken, dass 83 Prozent der zu einer Ersatzfreiheitsstrafe Verurteilten die Zahlungen nicht aus Lust und Laune verweigern, sondern sich schlicht nicht leisten konnten. Die Mehrheit von ihnen sei alkoholkrank oder psychisch krank. Dass Menschen für ihre Armut mit Gefängnis bestraft werden, kann man tatsächlich unerträglich finden.

Doch erstens geben die Piraten Lauer und Simon Weiß keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage, wie auch Normalverdiener davon abgehalten werden sollen, ohne Ticket zu fahren, wenn es keine Konsequenzen mehr hat, Straf- und Bußgelder nicht zu zahlen. Weiß ist im Gegensatz zu Lauer offizieller Diskussionsteilnehmer. Er ist Mathematiker und rechtspolitischer Sprecher der Fraktion. An diesem Punkt müsste auch eine Debatte über Sozialpolitik einsetzen, wie unterpriviliegierten Berlinern wieder auf die Beine geholfen werden kann. Aber Lauer imitiert lieber einen Reaktionär und sagt "Wenn wir das streichen, ziehen noch die ganzen Kriminellen nach Berlin!" Das lässt Hilperts Position noch ein bisschen verbohrter erscheinen und amüsiert viele im Publikum, die offenbar der Meinung sind, dass die Kriminellen ja eh schon alle in der Stadt sind.

Seltsam ist, dass die Piraten über eines ihrer wichtigsten Wahlversprechen nicht reden, dass ihnen vor einem Jahr den Erfolg brachte: Der Nahverkehr soll ticketlos sein und über eine Extraabgabe finanziert werden. Nur einmal und am Rande erwähnt Weiß die Idee dieser "Umlage". Als wolle die Fraktion erst einmal testen, wie die Debatte über Straffreiheit der Ärmsten ankommt.

Dann kommt die Frage auf, ob die Deutschen nicht ihre U-Bahn-Systeme mit Schranken für Schwarzfahrer sperren wollten, wie in London oder Paris. Jetzt dreht Hilpert auf. Für ihn stehen offene U-Bahn-Systeme fürs große Ganze: "Ist es nicht ein schöner Teil einer offenen Gesellschaft?"

Es ist nicht klar, ob er sich vom Klamauk seiner Diskussionspartner hat anstecken lassen oder ob er wirklich an die befreiende Wirkung von Stempelautomaten glaubt: "Wollen wir denn mit Selbstschussanlagen und Stacheldraht leben? Ist das ein Berliner Trauma oder was?" Lachen. Möglicherweise ist da gerade eine Selbstschussanlage losgegangen. Hilpert hat Lauers Versuchen, die Diskussion ins Halbseidene zu ziehen, nachgegeben. Punkt für Lauer, wieder mal.

Die Gäste im Publikum diskutieren mit, sie sind sich einig: Irgendwie dürfen Süchtige nicht fürs Schwarzfahren bestraft werden. Dann sagt Hilpert einen Satz, der ebenso ungelenk ist wie wahr: "Armut ist keine Sache, die in die Kernkompetenz der Verkehrsunternehmen fällt." In die der Piraten aber offensichtlich auch nicht.

Linktipp: Christopher Lauer verteidigt seine Partei und seine Person in einem lesenswerten Beitrag auf Spiegel Online gegen die Vorwürfe - über den er sich umgehend mit dem Grünen-Abgeordneten Omid Nouripour auf Twitter streitet.

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