Pflegeversicherung:Karlsruher Richter begünstigen die Familien

Das Bundesverfassungsgericht korrigiert Pflegeversicherung: Eltern sollen weniger einzahlen als Kinderlose. Laut Union hat das Urteil Folgen auch für die Rentenreform.

Helmut Kerscher und Andreas Hoffmann

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(SZ vom 4. April 2001) - Eltern zahlen künftig geringere Beiträge in die gesetzliche Pflegeversicherung als Kinderlose. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe muss der Gesetzgeber das Beitragssystem bis zum Ende des Jahres 2004 reformiert haben. Renten- und Krankenkassenbeiträge müssten ebenfalls überprüft werden, forderte das Gericht.

Es begründete die Entscheidung damit, dass die Pflegeversicherung auf die Prämienzahlungen der nachwachsenden Generation angewiesen sei. Die Sozialverbände begrüßten das Urteil. Die Union forderte, auch die Rentenreform neu zu verhandeln.

Die Richter stellten fest, dass "die Bevölkerung Deutschlands in den nächsten 50 Jahren unausweichlich und sehr massiv altern" werde. Die Kindererziehung sei deshalb von entscheidender Bedeutung für das Funktionieren der Pflegeversicherung. Diese decke das Risiko der Pflegebedürftigkeit im Alter ab und werde so finanziert, dass die erwerbstätigen Generationen die Kosten für ältere Generationen mittragen.

Die verfassungswidrige Benachteiligung der Eltern gegenüber Kinderlosen sah das Gericht darin, dass Eltern sowohl Beiträge zahlen als auch Kinder großziehen und dabei auf Konsum und Vermögensbildung verzichten. Kinderlose müssten zwar mit ihren Beiträgen auch das Pflegerisiko von beitragsfrei mitversicherten Ehegatten und Kindern mitfinanzieren. Das wiege aber den Vorteil gegenüber Versicherten mit Kindern nicht auf, befand das Gericht.

"Historischer Durchbruch"

Die vom Ersten Senat unter Vorsitz von Gerichtsvizepräsident Hans-Jürgen Papier geforderte Neuregelung muss bereits beim ersten Kind zu einer Entlastung führen. Die lange Frist erklärte das Gericht damit, "dass die Bedeutung des vorliegenden Urteils auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen sein wird".

Dieses wichtigste von insgesamt vier Urteilen zur Pflegeversicherung erging auf eine Verfassungsbeschwerde des Kirchenmusikers Alfred Wilhelm Müller aus Trier, eines Vaters von zehn Kindern. Er wurde vom Familienbund der Deutschen Katholiken unterstützt. Dieser hatte gemeinsam mit anderen Verbänden einen Freibetrag von 900 Mark je Kind und Monat verlangt. Die Richter machten dem Gesetzgeber jedoch keine Vorgaben über die Höhe der Entlastung von Versicherten mit Kindern.

Die Entscheidung gilt nur für die soziale Pflegeversicherung, der die 71 Millionen Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen angehören. In der privaten Pflegeversicherung mit ihren 8 Millionen Versicherten ist die gleiche Prämienhöhe für Eltern und Kinderlose laut Verfassungsgericht verfassungsgemäß.

Zur Begründung hieß es, die private Pflegeversicherung sei wegen eines anderen Finanzierungssystems "nicht in gleicher Weise auf die Prämienzahlungen der nachwachsenden Generation angewiesen wie die soziale Pflegeversicherung".

Welche Konsequenzen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Entlastung von Eltern bei der Pflegeversicherung auf die Beiträge hat, lässt sich nach den Worten von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) allerdings noch nicht beurteilen. Dazu müsse sie den Richterspruch zunächst einmal genau prüfen.

Das Urteil wurde von Politikern und Sozialverbänden einhellig begrüßt. Der rechtspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, sagte, das Urteil sei ein deutliches Signal an den Gesetzgeber, künftig in allen Bereichen des Sozialsystems Privilegien an das Vorhandensein von Kindern zu knüpfen. Der deutsche Familienverband begrüßte das Urteil als "historischen Durchbruch". Die Politik müsse nun auch die anderen Sozialversicherungen auf ihre "Belastungsgerechtigkeit" überprüfen.

Riester will nichts mehr ändern

Bundesarbeitsminister Walter Riester (SPD) hält eine Neuverhandlung der Rentenreform für nicht notwendig. "Es gibt keine Veranlassung, die Rentenreform zu ändern", sagte er. Die Bundesregierung habe nach dem Urteil des Verfassungsgerichts von 1992 über die Besserstellung von Kindererziehenden in der Rentenversicherung bereits "das umgesetzt, was umzusetzen war".

Unterstützt wurden SPD und Grüne vom Verband der Rentenversicherungsträger. Deren Geschäftsführer Franz Ruland sagte, in der Rentenversicherung herrschten völlig andere Ausgangsbedingungen als in der Pflegeversicherung.

Dagegen verlangte die Union, dass die Rentenreform neu verhandelt werde. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) sagte, es sei jetzt ausgeschlossen, dass die Bundesregierung ihre Position zur Rentenreform aufrechterhalten könne.

Ähnlich äußerte sich Horst Seehofer, Vizechef der CDU/ CSU-Fraktion. Jetzt müsse die Koalition die Familienkomponente "stärker und gerechter" gestalten, sagte er der Süddeutschen Zeitung. Er rechnet mit weit reichende Folgen des Urteils. Künftig müsse auch in der Renten- und Krankenversicherung über niedrigere Beiträge für Familien nachgedacht werden.

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