Pflegeversicherung:Bußgeld für Kinderlose

Wer keinen Nachwuchs hat, wird sich auf einen höheren Beitrag für die Pflegeversicherung einstellen müssen als Eltern.

(SZ vom 24.10.2003) - Es liegt an einem katholischen Kirchenmusiker mit zehn Kindern, dass die Bundesregierung die Pflegeversicherung reformieren muss. Alfred Wilhelm Müller aus Trier hatte in Karlsruhe für einen niedrigeren Beitrag gekämpft und pro Kind einen Freibetrag von 450 Euro verlangt; die Beitragsfreiheit von Kindern und erwerbslosen Ehefrauen sei kein ausreichender Familienlastenausgleich, fand er.

Es erging ihm allerdings wie jenem Beamten, der gegen die Pensionsbesteuerung vorgegangen war: Das Bundesverfassungsgericht gab beiden Klägern Recht. Es sah eine Verletzung des Gleichheitssatzes im Vergleich zu anderen - im einen Fall zu den Rentnern, im anderen zu den Kinderlosen -, aber die Kläger hatten nichts davon. Der Beamte muss weiterhin Steuern, der Kinderreiche bislang genauso viel Pflegeversicherung zahlen.

Karlsruhe überließ es bei dieser "Volksversicherung" dem Gesetzgeber, wie er die festgestellte Ungleichheit korrigieren wolle. Nach dem am 3. April 2001 verkündeten Grundsatzurteil (Aktenzeichen: 1 BvR 1629/94) war schnell klar, dass nicht die Kindererzieher entlastet, sondern die Kinderlosen belastet werden sollen. Der Erste Senat befand, das System der umlagefinanzierten Pflegeversicherung sei davon abhängig, dass nachwachsende Generationen ausreichend Beiträge zahlen. Deshalb sei die Kindererziehung für dieses System "konstitutiv" und müsse als eigenständige Leistung berücksichtigt werden.

"Erkennbares Ungleichgewicht"

Kinderlosen, die lediglich Beiträge zahlen, "zum Erhalt des Beitragszahlerbestands aber nichts beigetragen haben", erwachse daraus ein Vorteil. Ein gleich hohe Geldzahlung von beiden Gruppen führe zu einem "erkennbaren Ungleichgewicht": Der Gesamtbeitrag der Eltern bestehe aus Geldbeitrag plus Kindererziehung, während die Kinderlosen nur zahlten. Das Urteil ging also davon aus, dass die Kinder der jetzigen Beitragszahler - zum Beispiel die zehn des Klägers - in die Pflegeversicherung einzahlen werden. Privat Versicherte wie Beamte oder Selbstständige tun dies nicht, für Arbeitslose zahlt das Arbeitsamt.

Karlsruhe gab dem Gesetzgeber bis zum 31. Dezember 2004 Zeit, um die Pflegeversicherung dementsprechend umzugestalten und eine "relative Entlastung der kindererziehenden Beitragszahler" vorzunehmen. Lediglich zwei Vorgaben seien zu beachten: Zum einen müssten die Entlastungen Eltern in genau der Zeit zugute kommen, in der sie auch Kinder betreuen und erziehen. Zum andern könne ein Ausgleich nicht durch unterschiedliche Leistungen im Fall der Pflegebedürftigkeit erfolgen. Da eine "relative Entlastung" schon entsteht, wenn Kindererzieher weniger Beiträge zahlen, würde die geplante Erhöhung der Beiträge anderer dem Urteil entsprechen.

Scharfe Kritik von Experten

Die Entscheidung wurde überwiegend begrüßt, in der Fachwelt aber teilweise scharf kritisiert. Viele Experten hätten einen steuerfinanzierten Lastenausgleich für richtig gehalten. Manche Kritiker bemängelten, dass der umstrittene Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg aus Bielefeld als "Kronzeuge der Anklage" geladen war. Er verblüffte mit der vom Gericht zitierten These, die rasche Alterung der Bevölkerung könne bis 2050 durch eine Zuwanderung von 188 Millionen jüngeren Menschen oder durch eine Verdreifachung der Geburtenrate auf 3,8 Kinder pro Frau gedämpft werden.

Der stets mitschwingende Vorwurf des Schmarotzertums gegen Kinderlose erhielt in einem zentralen Punkt aber wenig Nahrung: Die Ausgaben für kinderlose Pflegebedürftige waren bei stationärer Pflege nicht, bei ambulanter Pflege kaum höher als die für Pflegebedürftige mit Kindern.

Eher beiläufig stand ein Satz im "Müller-Urteil", der jetzt in der Renten-Debatte eine Rolle spielt. Die Bedeutung des vorliegenden Urteils "werde auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen sein", hieß es. Die Befürworter höherer Rentenbeiträge oder niedrigerer Renten für Kinderlose können sich auf diese Bemerkung stützen.

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