Perspektive Volkspartei:Neue grüne Welt

Satte Gewinne in Bremen und Rheinland-Pfalz, ein Ministerpräsident in Baden-Württemberg: Ihr Höhenflug eröffnet den Grünen ungeahnte Perspektiven. Nun fehlt der Partei nur noch eine langfristige Strategie - und vielleicht ein Kanzlerkandidat. Gerade wegen ihrer erstaunlichen Erfolge drohen den Grünen aber neue Grabenkämpfe. Wie sollen sie mit ihrer neuen Stärke umgehen?

Michael Bauchmüller

In groben Zügen steht die Regie schon, der Ablaufplan für die Benennung eines grünen Spitzenkandidaten: Im Herbst könnte die Partei entscheiden, eine "Urabstimmungsordnung" zu entwerfen, der Parteitag im November könnte die veränderte Satzung beschließen.

Kretschmann wird Ministerpräsident

Freude über die Erfolge der Grünen: Baden-Würrtembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und die Grünen-Chefin Claudia Roth.

(Foto: dpa)

Und im nächsten Jahr könnten die Parteimitglieder dann bestimmen, ob sie mit einem Kanzlerkandidaten in die nächste Bundestagswahl ziehen - und mit wem. Seit der Grüne Winfried Kretschmann in Stuttgart regiert, ist ja nicht einmal ausgeschlossen, dass der- oder diejenige Kanzler wird, mal rein theoretisch. So weit ist es gekommen mit den Grünen.

Die Wahl Kretschmanns verändert die Grünen. Gerne sprach die Partei zuletzt von der Verantwortung für das Ganze. Nun hat sie sie. "Viele werden sich erstmals dieser Gesamtverantwortung bewusst", sagt Robert Habeck, Fraktionschef im Kieler Landtag. Fast "calvinistisch" sei das Arbeitsethos, das die Partei erfasse.

Und wo sonst Flügel und Quoten eine fragile Balance herstellten, steht nun mit Kretschmann eine Führungsfigur, wie es sie zuletzt mit Joschka Fischer gegeben hat. Die Kanzlerkandidatur wäre der logische nächste Schritt. Er führt in eine neue Welt.

Denn die Entscheidung für oder gegen einen einzelnen Kandidaten wirft gleich zwei Fragen auf: die nach der Macht und die nach dem grünen Selbstverständnis. Bei der letzten Wahl noch traten die Grünen mit ihrem Quartett an.

Warnung vor vorauseilendem Gehorsam

Der Realo Cem Özdemir neben der Parteilinken Claudia Roth, die Reala Renate Künast mit Jürgen Trittin. So war die Flügel- und Geschlechtsarithmetik gewahrt, die Zielgruppe beschränkte sich seinerzeit auf 10,7 Prozent der Wähler. Wie aber sieht sie 2013 aus? Die Grundsatzfrage, sagt ein Spitzengrüner, sei: "Klein, aber fein - oder weiter wachsen?"

Im Parteirat, der Denkfabrik der Grünen, hat die "Strategiedebatte" längst begonnen. In einem internen Papier warnt Parteichefin Claudia Roth eindringlich davor, Positionen über Bord zu werfen. Ihr Petitum: "Kein vorauseilender Inhalte-Gehorsam in der Hoffnung auf einen bestimmten Koalitionspartner, keine Vermeidung klarer Positionen aufgrund irgendwelcher Meinungsumfragen, kein Abrücken von grünen Kernthemen, keine Beliebigkeit."

Vor allem der Parteilinken spricht das aus der Seele. "Wir sind stark geworden mit unseren Ecken und Kanten, und nicht als stromlinienförmige Anpasser", schreibt Roth. Gleichwohl dürfe im laufenden Jahr keine Wahl mehr schiefgehen. Keiner will die sensationellen Umfragewerte der vergangenen Monate leichtfertig verspielen.

Hinter der Debatte verbirgt sich, wie oft bei den Grünen, ein Lagerkampf. Parteilinke und Realos haben unterschiedliche Vorstellungen vom weiteren Gedeihen der Partei.

Neue Wähler auf Dauer halten

"Die Frage ist, wie man damit umgeht, dass ein Viertel der Leute sagt, die Grünen kann ich wählen", sagt der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, ein Realo. "Wie geht die Partei mit den Möglichkeiten um, die sich da eröffnen?" Seine Antwort: "Wir müssen die Chance nutzen, Volkspartei zu werden."

Dazu jedoch müssten die Grünen bereit sein zu Reformen, um aus neuen auch dauerhafte Wähler zu machen. Ein Maßstab, der vor allem der Parteilinken nicht behagt. "Zu glauben, dass die 25 Prozent uns wählen, damit wir einfach den Status quo grün anmalen, wäre mit Sicherheit der falsche Schluss", sagt Gesine Agena, Sprecherin der Grünen Jugend. "Jetzt wäre doch die Chance zu zeigen, wo man wirklich steht."

Die Chance könnte sich bald bieten, und das in einer heiklen Frage: Wenn im Juni die Bundesregierung Pläne für den beschleunigten Atomausstieg vorlegt, werden auch die Grünen Position beziehen müssen.

Sogleich nach der Havarie im japanischen Fukushima hatte die Partei schon ihren Ausstieg vorverlegt: Nicht der rot-grüne Atomkonsens ist seither ihr Ziel, sondern ein Ausstieg noch in der nächsten Legislaturperiode, also bis spätestens 2017. Was aber werden die Grünen zu einem Konsensangebot der Kanzlerin sagen, etwa einem Ausstieg bis 2021?

Grüne Jugend gegen falschen Konsens

Abermals zieht sich ein Graben durch die Partei. Die Parteispitze zeigt sich offen für einen Konsens. "Das würde die Richtigkeit des Atomausstiegs und des grünen Kurses besiegeln", sagt Steffi Lemke, politische Geschäftsführerin der Grünen. Reiche es nicht zum Konsens, "dann müssen Union und FDP das Restrisiko alleine verantworten".

An der Basis allerdings geht ein Entgegenkommen einigen zu weit. "Ein falscher Konsens ist mit uns nicht zu machen", beschloss die Grüne Jugend. Nötig sei der schnellstmögliche Ausstieg - eher 2015 als 2017. "Es ist klar, dass das nicht 2021 ist."

Schon suchen die Grünen eine Halle für einen Parteitag, er könnte Ende Juni die schwierige Frage entscheiden. An diesem Montag will die Partei auch ihre Strategiedebatte fortführen, die schwere Frage nach dem Wohin. Den letzten Anlauf musste der Parteirat, dem auch die Grünen-Spitze angehört, unlängst abbrechen. Die Partei- und Fraktionschefs mussten zur Kanzlerin - zum Sondierungsgespräch über die Atomkraft.

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