Parteien in Deutschland:Feind der Piraten ist der Alltag

Die Deutschen sind hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach politischer Belebung einerseits und einer soliden Regierung andererseits. In diesem Spannungsfeld wächst die Piratenpartei und verschiebt die Parteienlandschaft gehörig. Doch so schnell der Erfolg gekommen ist, so schnell kann er auch schon wieder vorbei sein.

Heribert Prantl

Die Piraten haben noch nichts geleistet, aber schon viel erreicht. Sie werden bestaunt, sie werden gewählt, sie werden bewundert als die Protagonisten und Propheten des neuen Zeitalters. Sie sind zu Hause in der löchrigen Welt des Netzes, die als die Welt der Zukunft gilt. Manche raunen gar, dass dort die Demokratie neu erfunden werden könnte - indem aus der permanenten Revolution, von der früher junge Revoluzzer träumten, eine permanente Abstimmung im Internet wird. Wie das genau ausschauen, wie das genau funktionieren soll, weiß kein Mensch. Aber die Ahnung von der Zukunft ist ja seit jeher faszinierender als deren Realität. Darum gilt die Partei der Piraten derzeit als ein Faszinosum.

Früher Wandervögel, heute Piraten

Die Piratenpartei ist den einen neue Heimat in einer neuen Welt; den anderen ist sie zumindest ein Hafen, den man in dieser neuen Welt schnell erreicht, und in dem man Frust, Wut und Zorn über die gängige Parteiendemokratie abladen kann. Wer diesen Hafen ansteuert, protestiert gegen das Alte, Langweilige, Verkrustete und Ritualisierte, das Routinierte und Abgeschmackte; der lässt eine wirklich oder angeblich antiquierte politische und eine destruktive wirtschaftliche Welt hinter sich, in der nach seinem Gefühl die Führungsfiguren die normale Sprache verlernt und ihr Handeln den Bezug zu Alltag, Leben und Gemeinwohl verloren haben. Dieses Gefühl ist nicht neu. Neu sind die Mittel und Methoden, ihm zu folgen.

Vor einem Jahrhundert beispielsweise, als es auch viel Überdruss am Alten gab, hießen die Piraten Wandervögel, und sie suchten die Freiheit in der freien Natur und dort die blaue Blume als Symbol des neuen Selbst. Heute erklicken sie ihr Selbst im Internet; dort kennen sie sich aus.

Piraten haben von sehr wenig sehr viel und von sehr vielem sehr wenig Ahnung; das Wenige genießt allerdings große öffentliche Beachtung; und so ist aus der objektiven Schwäche der Piraten in der öffentlichen Darstellung vorübergehend eine subjektive Stärke geworden. In einer politischen Welt, die sich aalglatt, geschliffen und perfekt geriert, hat das noch Ungeschliffene und Unperfekte etwas Sympathisches, Natürliches und Menschliches.

Weil aber heute nichts so schnell altert wie das Faszinosum, geht die publizistische Schonzeit dieser Partei schon wieder zu Ende: Der Lobpreis der digitalen Frische und der politisch-piratischen Naivität weicht der Kritik am Amateurismus und der Frage, ob verantwortliche Politik nicht doch ein Fundament an Professionalität, Berechenbarkeit und Erfahrung braucht.

Das ändert nichts an der kurz- und mittelfristigen Attraktivität der Piratenpartei, auch weil die anderen Parteien, zumal Union und SPD, nun deren Themen aufgreifen und sich veranlasst sehen, endlich das zu tun, was sie längst hätten tun sollen: sich um mehr direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung bei Großprojekten zu kümmern.

Die Piratenpartei ist nun wohl für einige Zeit der politisch-parlamentarische Arm der Netzbürger, Wutbürger und der Occupy-Bewegung. Wem die Revitalisierung der Demokratie angelegen ist, der schaut mit Interesse darauf, was sich da tut. Und was sich da tut - das ist vor allem für die Grünen unangenehm, die jetzt merken, dass ihre Partei Esprit und Frische nicht in Erbpacht hat.

Schon wieder was Neues also. Der Philosoph Walter Benjamin hat die jeweils neuesten Kreationen der Mode einst als die "geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge" bezeichnet - wenn man sie nur zu lesen verstünde, kenne man die Zukunft. Für die politische Mode gilt das gleichfalls. Politologen, Kommentatoren und Piratologen behaupten denn auch, die Zukunft der Politik zu kennen, sie berauschen sich an der neuen Buntheit der Republik, malen die Parteienlandschaft neu, sprechen von einem Beben, von einem Umbruch der Parteienlandschaft.

Im Sechsparteienland

Aus dem Dreiparteienland von einst ist ja tatsächlich erst ein Vierparteien-, dann ein Fünfparteienland geworden; und schon spricht man, nach den ersten Wahlerfolgen der Piratenpartei, von einem Sechsparteienland. Man tut so, als ginge das nun immer so weiter - als sei nur das neue Werden und Wachsen von Parteien ein politisches Naturgesetz, nicht aber ihr Sterben. Man hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren an das Entstehen von Parteien gewöhnt, kaum aber an ihr Vergehen und Verschwinden.

Es wird wieder passieren, was schon einmal, in der Adenauerzeit, also im ersten bundesrepublikanischen Jahrzehnt, passiert ist: Aus dem Zehn-Parteien-Gewusel des ersten Bundestags zu Bonn wurde seinerzeit binnen dreier Bundestagswahlen ein sehr übersichtliches Drei-Parteien-System.

Die Vergänglichkeit von FDP und Linken

Und heute? Gibt es wirklich ein Bedürfnis nach drei liberalen Parteien - FDP, Grüne und Piraten? Der Verfall der FDP wird bei den bevorstehenden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen allenfalls ein wenig aufgehalten, nicht aber beendet werden; aus Mitleid plus Lindner entsteht keine neue liberale Stärke und kein neues politisches Format.

Die Linke wird das finale Schicksal der FDP teilen: Diese Partei des Oskar Lafontaine schmilzt dahin wie ein Gletscher; sie wird im Westen aus den Parlamenten verschwinden. Von der Vergänglichkeit der FDP wird die Union, von der Vergänglichkeit der Linken die SPD profitieren. Diese noch halbwegs großen Parteien werden also wieder ein wenig stabiler sein.

Die Regierungsbildung wird aber dadurch nicht leichter werden. Solange der Erfolg der Piraten anhält, kann dieser etwa verhindern, dass sich rot-grüne Regierungen bilden. Ausgerechnet die Piratenpartei könnte also dafür sorgen, dass Deutschland von großen Koalitionen aus CDU/CSU und SPD regiert werden muss. Ein dauerhafter Segen ruht darauf nicht, der Revitalisierung der Demokratie dient das auch nicht. Große Koalitionen führen zur Stärkung parlamentarischer und außerparlamentarischer Opposition, womöglich aber auch dazu, dass die Großkoalitionäre das Bedürfnis spüren, sich doch wieder sehr viel stärker voneinander abzugrenzen - und dann Teile oppositioneller Positionen und Wählerschaften aufsaugen.

Die Deutschen schwanken zwischen zwei Polen

Der Piraten-Erfolg wird zusammenbrechen, wenn die Piratenpartei den parlamentarischen Alltag nicht packt; und allmählich verebben wird ihr Erfolg, wenn es ihr nicht gelingt, sich im politischen Spektrum einigermaßen klar zu positionieren; auf der Basis bloß von Stimmungslage und Lebensgefühl kann man als Partei auf Dauer nicht reüssieren.

Die Deutschen leben derzeit in einer eigenartigen Spannung, sie schwanken zwischen zwei Polen: Sie sind einerseits politisch höchst unzufrieden, fühlen sich irgendwie so wie die Briten am Ende von Blair und die Amerikaner am Ende von Bush, sie sehnen sich nach politischer Belebung, sei es durch eine Person oder eine Partei. Aber da ist zweitens auch der Wunsch nach Stabilität und Verlässlichkeit, nach einer soliden Regierung, der man trauen kann. An dieser Hin- und Hergerissenheit wird sich bis zu den Bundestagswahlen nichts ändern. Gewinnen wird das Hin. Und das Her auch.

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