Parteien:Halbes Herz, falsche Seite

Das Referendum verändert die britische Politik: Unter allen Parteien hat Labour nun am meisten zu leiden.

Von Björn Finke, London

Jeremy Corbyn zeigte sich zuversichtlich: "Es ist ein guter Tag", sagte der Chef der Labour-Partei, als er am Donnerstag im Wahllokal seine Stimme für das Referendum abgab. Doch in Wirklichkeit war es ein sehr schlechter Tag für die britischen Sozialdemokraten. Darum forderten am Freitag bereits zwei Abgeordnete der Oppositionspartei, dass die Fraktion kommende Woche über Corbyns Zukunft abstimmen soll.

Der Sieg des Brexit-Lagers erschüttert Europa, er stürzt die Finanzmärkte in Turbulenzen. Und er verändert die britische Politik. Unter den Parteien ist Labour der große Verlierer. Die EU-feindliche UK Independence Party (Ukip) des dauergrinsenden Nigel Farage kann dagegen auf kräftige Zugewinne bei zukünftigen Wahlen hoffen. Die regierenden Konservativen, die Tories, sind gespalten und müssen bis Oktober einen neuen Premierminister küren. Kabinettsmitglieder, die sich bis Donnerstag gegenseitig Lügen und mieser Tricks bezichtigten, müssen wieder einträchtig miteinander arbeiten.

Das Land und die Parteien stehen vor turbulenten Wochen, noch bevor die Verhandlungen mit Brüssel über eine Trennung beginnen.

Es war keine Überraschung, dass das Brexit-Lager im Süden Englands - außerhalb Londons - gut abschnitt. Doch die Austritts-Freunde errangen die Mehrheit, weil sie unerwartet viele Stimmen in Wales und vor allem in Nordengland erhielten. Hier konnte das EU-Lager nur wenige Wahlbezirke gewinnen. Dabei sind die eher armen Industrie-Städte im Norden Englands eine Hochburg von Labour. Und die Partei warb anders als die gespaltenen Tories nahezu geschlossen für den Verbleib.

Populisten werden von der Schwäche der Sozialdemokraten profitieren

Offenbar gelang es der Partei nicht, ihre Stammwähler zu überzeugen. Diese folgten lieber den Argumenten der Brexit-Kampagne, die vor zu viel Einwanderung warnte und einen Austritt als Lösung anpries. Für viele Wähler in Nordengland steht Labour also bei den Themen Ausländer und EU auf der falschen Seite - deswegen könnte die Partei demnächst bei Wahlen massiv Stimmen an die Rechtspopulisten von Ukip verlieren.

Simon Hix, Politik-Professor an der London School of Economics, erwartet jedenfalls "großen Schaden" für die Sozialdemokraten. "Ukip-Kandidaten werden bei der nächsten Wahl von Tür zu Tür gehen und verkünden: 'Labour war gegen euch'", sagte Hix der Süddeutschen Zeitung. Er rechnet damit, dass das Thema Einwanderung noch lange die politische Agenda beherrschen wird - was Ukip nutzt. "Wir haben bei der Referendums-Kampagne die Geburt einer neuen populistischen Bewegung gesehen, die sich gegen das Establishment und gegen Einwanderung richtet", sagte Hix.

Ukip wurde früher vor allem als Gefahr für die Tories wahrgenommen. Meinungsforscher weisen jedoch darauf hin, dass Ukip und Labour um Wähler aus ähnlichen Milieus werben. Der Labour-Abgeordnete Frank Field warnte bereits vor zwei Monaten, die Pro-EU-Haltung der Führung sei "eine tödliche Bedrohung" für die Partei. Diese Position gefalle vielleicht wohlhabenden Labour-Anhängern in London, nicht aber den klassischen Stammwählern aus der Arbeiterklasse. Field ist einer von nur zehn Labour-Parlamentariern, die für den Brexit eintreten.

Mahnendes Beispiel ist Schottland. Beim Unabhängigkeits-Referendum 2014 kämpfte Labour zusammen mit den Tories gegen eine Abspaltung. Die SNP, die Partei der schottischen Nationalisten, verlor zwar die Volksabstimmung. Dafür nahm sie den Sozialdemokraten bei den Parlamentswahlen im Jahr darauf alle Sitze bis auf einen ab - ein Desaster in der einstigen Labour-Hochburg.

Parteichef Corbyn war selbst lange ein EU-Skeptiker, warb aber trotzdem für den Verbleib. Europa-freundliche Kritiker in der Partei klagen jedoch, er habe sich nur halbherzig engagiert. So sagte er zwei Wochen vor der Abstimmung, seine Begeisterung für die EU liege bei "7 bis 7,5 von 10 Punkten". Corbyn verkündete zudem, eine Obergrenze für Einwanderer aus der EU könne es nicht geben. Das mag stimmen, ist allerdings nicht das, was Stammwähler hören wollten. Am Freitag kritisierten Labour-Politiker, der Parteilinke aus London habe keinen Draht zu Wählern außerhalb der Metropole.

Die Mehrheit der Tory-Fraktion kämpfte gegen einen Brexit

Dennoch ist es unsicher, ob Corbyn bald abtritt. Er wurde erst im September mit großer Mehrheit von den Mitgliedern zum Vorsitzenden gewählt. Ein Nachfolge-Kandidat drängt sich nicht auf. In der Fraktion hat er allerdings wenig Rückhalt.

Die Konservative Partei steht ebenfalls vor turbulenten Monaten. Die Tories sind tief gespalten. Die Mehrheit der Mitglieder ist für den Austritt, doch die meisten Abgeordneten und Minister lehnten das ab. Wichtigste Vorkämpfer der Brexit-Kampagne waren Justizminister Michael Gove und Boris Johnson. Londons früherer Bürgermeister gilt als aussichtsreichster Kandidat für die Nachfolge Camerons.

Schatzkanzler George Osborne warb wie der Premier für den Verbleib. Mit seinen düsteren Drohungen, wie schlecht es der Wirtschaft und den Bürgern nach einem Austritt gehen würde, zog Osborne den Zorn vieler EU-Gegner auf sich. Ob er sich halten kann, ist fraglich. Allgemein wurde die Referendums-Kampagne sehr hitzig geführt, von beiden Seiten. Minister beschimpften sich gegenseitig, Freundschaften wurden gekündigt. Wer auch immer Cameron beerbt, wird versuchen, die Partei wieder zu versöhnen. Eine schwierige Aufgabe.

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