Parlamentswahl in Israel:Warum Netanjahu zittern muss

Israel's Prime Minister Netanyahu and Herzog are pictured together on a rotating billboard in Tel Aviv

Muss seinen Herausforderer Izchak Herzog von der Arbeitspartei mittlerweile fürchten: Benjamin Netanjahu (rechts)

(Foto: Baz Ratner/Reuters)
  • Netanjahu hat seinen Vorsprung in Umfragen eingebüßt.
  • Vor allem die israelische Mittelschicht hat das Vertrauen in den Ministerpräsidenten verloren.
  • Netanjahu hat im Wahlkampf versucht, mit Fragen der inneren Sicherheit zu punkten, doch er hatte damit kaum Erfolg.
  • Netanjahus Hauptkonkurrent wurde aufgrund seines nicht vorhandenen Charismas lange unterschätzt, könnte ihn aber im Amt beerben.

Von Sebastian Gierke

Im Dezember 2014 hatte Benjamin Netanjahu genug - und provozierte den Bruch der Regierungskoalition. Er misstraute seinen Regierungspartnern, entließ Finanzminister Yair Lapid und Justizministerin Tzipi Livni. Des erneuten Wahlsieges gut 90 Tage später war er sich sicher. Damals standen die Chancen tatsächlich gut, ein noch weiter rechts angesiedeltes Regierungsbündnis zu bilden. Alle Umfragen deuteten darauf hin, dass Netanjahu, Spitzname "Bibi", mit einer Regierung aus Ultrarechten und Ultraorthodoxen nach der nächsten Wahl weiterregieren kann.

Netanjahu könnte sich getäuscht haben. Die Stimmung hat sich in den vergangenen Monaten verändert. Die aktuellen Umfragen zeigen: Netanjahu ist die Favoritenrolle los. Das Bündnis von Izchak (Isaac) Herzog, die "Zionistische Union" hat ihn überholt.

Die letzte Umfrage vor der Wahl und wie die Knesset im Moment aussieht:

Doch woher kommt der Stimmungswandel in Israel? Was spricht für Netanjahu? Und weshalb muss er bangen?

Wirtschaftliche Lage

Die wirtschaftliche Situation des Landes ist verhältnismäßig gut:

Doch Israel hat auch die höchste Armutsquote unter den Industriegesellschaften, also den Ländern, die die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) "developed countries" nennt. Zwanzig Prozent aller Israelis sind demnach arm, das ist fast doppelt so hoch wie der OECD-Durchschnitt von 11,3 Prozent. Etwa 40 Prozent der israelischen Kinder leben unterhalb der Armutsgrenze.

Und auch ein Großteil der israelischen Mittelschicht hat das Vertrauen in Netanjahu verloren. Er regiert mit drei Amtsperioden länger als alle anderen Premierminister vor ihm - mit Ausnahme des Staatsgründers David Ben-Gurion. Zuletzt sind seine persönlichen Zustimmungswerte deutlich zurückgegangen.

Wie die Israelis Netanjahu beurteilen:

Die Mittelschicht nimmt ihm vor allem die extrem hohen Lebenshaltungskosten übel:

Die Lebensmittelpreise sind laut OECD zwischen 2005 und 2015 um 34,1 Prozent gestiegen. Sie liegen zehn Prozent über dem OECD-Durchschnitt. Auch die Regierung hat dagegen bislang nichts getan.

Mieten und Immobilienpreise explodieren, Normalverdiener können sich in den Städten kaum mehr eine Wohnung leisten. Ein Israeli muss 148 durchschnittliche Monatsgehälter aufwenden, um ein Haus zu kaufen, in den Niederlanden sind es im Vergleich dazu nur 64 Monatslöhne. In ganz Israel fehlen 100 000 Wohnungen.

In Tel Aviv sind im September 2011 450 000 Menschen auf die Straße gegangen, um dagegen zu demonstrieren, dass sie sich das Leben in ihrem Land kaum noch leisten können, gegen soziale Ungleichheit und die Tatenlosigkeit der Regierung.

Konflikt mit den Palästinensern und Irans Atomprogramm

Netanjahu hat deshalb versucht, die Themen soziale Gerechtigkeit, Preise und Wohnungsnot aus dem Wahlkampf fernzuhalten. Stattdessen rückte er den Konflikt mit den Palästinensern und Irans Atomprogramm in den Mittelpunkt. Als letzte, verzweifelte Tat erklärte er einen Tag vor der Wahl: Mit ihm werde es keinen Palästinenserstaat geben.

Doch auch hier ist Netanjahus Bilanz verheerend. Das Wort Friedensprozess wird in Israel kaum mehr verwendet. Die Wähler können es nicht mehr hören. Erst im vergangenen Jahr 2014 eskalierte der Konflikt zum Krieg. Die Folge: 2100 Tote, 10 000 Verletzte, 100 000 Obdachlose im Gazastreifen. In Israel starben 73 Menschen.

Angriffe auf Israel aus dem Westjordanland und Gaza:

Kurz vor der Wahl reiste Netanjahu dann sogar in die USA, um vor dem republikanisch dominierten Kongress zu sprechen und vor Iran zu warnen. Damit nahm er eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zum Weißen Haus in Kauf. Doch die scharfen Attacken des Ministerpräsidenten brachten nicht das erhoffte Resultat, die Umfragewerte verbesserten sich nicht.

Viele Israelis haben offenbar auch genug von der kurzatmigen Politik Netanjahus. Ein langfristiger Plan, über die Bewältigung immer wieder aufbrechender Konflikte hinaus, ist nicht erkennbar. Unter Netanjahu hat sich Israels Verhältnis zu Europa und den USA verschlechtert. Das liegt vor allem an der Zahl der Siedlungen auf von Israel besetztem palästinensischen Gebiet.

Zahl von Menschen, die in israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten leben:

Netanjahus Gegenkandidaten

Lange hieß es über Izchak Herzog, dass er Netanjahu niemals gefährlich werden kann.

Jetzt liegt Izchak Herzog mit seinem Mitte-links-Bündins vor dem Ministerpräsidenten. Sein Vorteil: Viele Israelis haben Netanjahu satt. Und der Herausforderer erinnert so gar nicht an Netanjahu.

Stimmen wird Netanjahu auch Mosche Kahlon kosten. Vor allem die Debatten über hohe Lebenshaltungskosten haben den ehemaligen Likud-Mann, der Netanjahu vor zwei Jahren den Rücken kehrte, für viele zu einem Hoffnungsträger gemacht.

Ayman Odeh ist der Spitzenkandidat der arabischen Vereinten Liste. 20 Prozent macht die palästinensich-arabische Minderheit in Israel mittlerweile aus. Für diese Wahl haben sich die kleinen arabischen Parteien und die Mitglieder der linken Hadash-Partei jetzt zusammengeschlossen. Falls es zu einer Einheitsregierung von Netanjahus Likud und der Zionistischen Union kommt, könnte Odeh sogar Oppositionsführer werden.

Auf dem rechten Flügel dürfte davon der Falke Naftali Bennett profitieren, Vorsitzender der nationalreligiösen Siedlerpartei "Jüdisches Heim". Bennett lehnt einen Palästinenserstaat ab und fordert eine Teilannexion des Westjordanlands.

Wahlarithmetik

Das israelische Wahlsystem erlaubt die parlamentarische Vertretung vieler politischer Strömungen. Damit erschwert es zugleich die Bildung stabiler Koalitionen. Nur sechs der bisher 19 Parlamente überstanden die volle Legislaturperiode von vier Jahren.

Gewählt wird die 120-köpfige Knesset nach reinem Verhältniswahlrecht in einem einzigen, landesweiten Wahlkreis. Jeder der am Dienstag wahlberechtigten 5.881.696 Bürger über 18 Jahren kann in den 10.372 Wahllokalen für eine Liste stimmen.

Vor dieser Wahl wurde die Prozent-Hürde, die Partei erreichen müssen, um ins Parlament einzuziehen, erhöht. Von 2,0 Prozent auf nunmehr 3,25 Prozent. Das soll der Zersplitterung der israelischen Parteienlandschaft entgegenwirken. Für viele arabische Israelis ist es allerdings nur ein weiteres Beispiel für ihre Diskriminierung.

Rund 800.000 Wahlberechtigte gehören zur arabischen Minderheit. Bei nur 56 Prozent lag die Beteiligung der arabischen Israelis bei der Wahl im Jahr 2013. Deshalb vertreten derzeit nur elf Abgeordnete die arabischen Parteien. Wahlumfragen sehen die Liste bei 15 Sitzen. Prognosen sagen eine Wahlbeteiligung von mehr 70 Prozent unter den arabischen Israelis voraus. Da eine Regierungsbeteiligung der arabischen Liste allerdings ausgeschlossen ist, dürfte es rechnerisch kaum möglich sein, eine Regierung ohne Netanjahus Likud zu bilden.

Geburtenraten in Israel, Gaza, dem Westjordanland (Westbank) und weiteren ausgewählten Weltregionen:

In der Geschichte Israels hat noch nie eine Einzelpartei die für eine Alleinregierung notwendige Zahl von 61 Knesset-Mandaten erreicht. Koalitionsregierungen, oft gebildet aus fünf und mehr Fraktionen, sind üblich.

Kurz vor der Wahl haben sich viele Israelis noch nicht festgelegt, für wen sie abstimmen. 2013 entschieden sich 25 Prozent erst am Wahltag. Weil das Rennen dieses Mal so spannend ist, werden die Unentschlossenen eine große Rolle spielen.

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