Palästina:Verarmt, hungrig und auf Hilfe angewiesen

Mehr als die Hälfte der 3,2 Millionen Palästinenser in den besetzten Gebieten muss mit drei Dollar am Tag auskommen

Thorsten Schmitz

(SZ vom 23.6.2003) - Zwei Tage lang verspürte der 47 Jahre alte palästinensische Familienvater Azam Alawneh ein Stechen in der linken Brust. Der Arzt im Dorf Azmut im Westjordanland diagnostizierte einen Herzinfarkt und sandte Alawneh umgehend in ein Krankenhaus in die nahe gelegene palästinensische Autonomiestadt Nablus.

Dort allerdings kam Alawneh nie an. Die israelischen Soldaten am Ortsausgang von Azmut weigerten sich, Alawneh und seine Frau trotz eindeutiger medizinischer Befunde passieren zu lassen. Daraufhin riefen die beiden einen Krankenwagen, aber dieser konnte nicht nach Azmut hineinfahren, weil die Armee einen Graben um das Dorf ausgehoben hatte.

Während die Sanitäter den Graben mit Erde auffüllten, starb Alawneh. Die von der israelischen Menschenrechtsorganisation Betselem protokollierte Tragödie vom Dezember vergangenen Jahres ist in den seit 1967 durch die israelische Armee besetzten Palästinenser-Gebieten keine Ausnahme.

Jeden Tag spüren die 1,9 Millionen Palästinenser im Westjordanland und die 1,3 Millionen im Gaza-Streifen, dass sie als Menschen zweiter Klasse angesehen werden. Zusätzlich zum autokratischen Regierungsstil von Palästinenserpräsident Jassir Arafat, der seine Landsleute wie Unmündige behandelt und Kritiker ins Gefängnis sperren lässt, leiden die Palästinenser im Alltag unter der Besatzung durch die Israelis und deren Schikanen.

Israel hat das Westjordanland in einen unübersichtlichen Flickenteppich aus den Zonen A, B und C aufgeteilt, wobei A - mit zwei Prozent der flächenmäßig geringste Anteil - von den Palästinensern autonom verwaltet und von den eigenen Sicherheitskräften kontrolliert wird. In der Theorie jedenfalls. Praktisch hat Israels Armee seit Beginn der neuen Intifada im Herbst 2000 wieder das gesamte Westjordanland in eine von Israel kontrollierte Zone umfunktioniert.

Die Armee sitzt vor und in den acht autonomen Zonen. Wer oder was diese Zonen verlassen oder in sie hinein darf, bestimmen Soldaten an Straßensperren, an denen die Palästinenser um Passage bitten müssen.

Wegen der Sperren, die das Militär errichtet, kommen die Palästinenser nicht zueinander: Familien aus Ramallah können weder Verwandte oder Freunde in Jerusalem oder Gaza besuchen, die Menschen aus Gaza können nicht ins Westjordanland, erst recht nicht nach Israel. Auch innerhalb des Westjordanlandes dürfen sich die Palästinenser nur mit Genehmigung Israels bewegen, oft wird diese allerdings willkürlich verweigert. Viele Straßen sind ausschließlich jüdischen Siedlern vorbehalten.

Zehntausende von Angestellten der palästinensischen Autonomiebehörde können nicht bezahlt werden - auch weil die Israelis den Palästinensern Steuern und Zölle vorenthalten, die diesen zustehen. Die Gelder hatten die Israelis vor Ausbruch der Intifada für den Export palästinensischer Waren im Namen der Palästinenser kassiert, wenn die ihre Waren beispielsweise über israelische Häfen ausgeführt hatten.

Weil Israel die Palästinenser-Gebiete abriegelt, können dorthin zudem häufig nicht einmal Produkte eingeführt werden, die für das alltägliche Leben notwendig sind. So darf kein Zement in die besetzten Gebiete gelangen. Israel argumentiert, Terroristen könnten diesen benutzen, um Gebäude zu verstärken, von denen aus israelische Soldaten beschossen würden. Auch Grundnahrungsmittel wie Milch und Eier fehlen, sie können aus Israel nur noch manchmal importiert werden.

Einst arbeiteten über 110.000 Palästinenser tagsüber in Israel und in jüdischen Siedlungen, heute sind es nur noch ein paar tausend. Manche Palästinenser schmuggeln sich auf Schleichwegen nach Israel und arbeiten dort auf Baustellen. Wenn sie entdeckt werden, landen sie im Gefängnis.

Das durchschnittliche Einkommen eines Palästinenser-Haushaltes ist seit dem Friedensabkommen von Oslo 1993 um 35 Prozent gesunken. Weit über die Hälfte der Palästinenser verfügen nach Uno-Angaben über weniger als drei Dollar am Tag, von denen sie leben müssen. Auf 500 Millionen Dollar schätzt die Uno den durch die Intifada verursachten wirtschaftlichen Ausfall.

Die Palästinenser verarmen und hungern und sind auf Hilfslieferungen angewiesen, die wiederum ihr Ziel wegen der Straßensperren der Armee oft nur verspätet erreichen. Die 36 Jahre andauernde Besatzung hat auch den Handel mit Anrainerstaaten zum Erliegen gebracht. Palästinensische Gurken und Erdbeeren verfaulen, weil sie nicht exportiert werden können. Auch fehlt es an Wasser, weil Israel die Quellen unter dem Westjordanland kontrolliert und 80 Prozent des Wassers in jüdische Siedlungen und nach Israel leitet.

Ohne die Lebensmittelhilfen der Uno wüssten die meisten Familien gar nicht, wie sie ihre Kinder ernähren sollen, die mit über 50 Prozent den Hauptanteil der Bevölkerung stellen. In dutzendfach vererbten Klamotten machen sich die Kinder auf den Weg in die Schulen - wenn die israelischen Soldaten sie überhaupt lassen.

Vor der Intifada war der Bildungsstand vergleichsweise hoch, die Analphabeten-Rate betrug nur fünf Prozent. Doch die Zerstörungen vieler Schulen sowie der Unterrichts- und Vorlesungsausfall erschweren das Lernen oder machen es mittlerweile vielerorts unmöglich. Nach Angaben der Uno verpassen Schüler und Studenten derzeit die Hälfte eines regulären Schul- und Studienjahres.

In ihrer Freizeit arbeiten viele Kinder auf den Feldern, die noch nicht von den Israelis zerstört worden sind - oder sie betteln. Sie achten ihre Eltern nicht mehr, weil diese arbeitslos sind und von jungen israelischen Soldaten, die ihre Söhne sein könnten, gedemütigt werden.

Das Vakuum der Langeweile können dann die Verführer der Terrorgruppen mit dem Glauben füllen, dass die Vernichtung israelischen Menschenlebens den Jugendlichen Würde verleihe.

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