Osteuropa:Sisyphus und die Solidarität

Ja, es ist erschreckend, wie manche Politiker in Osteuropa über Flüchtlinge reden und sich gegen deren Aufnahme sperren. Aber man wird dieses Problem nicht durch die Ausgrenzung und Bestrafung dieser Länder lösen.

Von Daniel Brössler

Was hätte Václav Havel gesagt? Wer in Zeiten wie diesen den tschechischen Präsidenten hört, der wüsste das gerne. Miloš Zeman, zweiter Nachfolger Havels auf der Prager Burg, hat seinen Landsleuten neulich erklärt, was sie von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten zu erwarten haben: Ghettos, ansteckende Krankheiten und Terror. Massen suchen Zuflucht in Europa, ein sehr kleiner Teil davon womöglich auch in Tschechien. Zum "Wir schaffen das" der Angela Merkel gibt es im Osten der EU eine Gegenparole, und Zeman ist nur einer von vielen, die sie verkünden. Sie lautet: Fürchtet euch!

Václav Havel hat vielleicht nicht die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 vorausgesehen. Aber er hatte eine sehr klare Vorstellung davon, als wie schwer es sich erweisen würde, in einer Krise wie dieser die europäische Einheit zu leben. 2003 sprach er in einem Interview davon, dass eine "sisyphäische Aufgabe" vor Europa liege. Es gelte, die historische, geistige, kulturelle und politische Dimension der Vereinigung zu begreifen und sich nicht durch die Verhandlungen irremachen zu lassen, die den Eindruck vermitteln, es gehe "nur um Zolltarife oder Quoten". Die Ironie will es, dass nun der Streit über eine Quote offenbart, wie recht Havel gehabt hat.

Im östlichen Teil der Union ist die "Quote" zu einem Symbol geworden. Sie steht für eine EU, die zu weit geht. Nicht nur Tschechen, auch Polen, Slowaken und Ungarn argumentieren grundsätzlich. In einer verpflichtenden Quote zur EU-weiten Verteilung von Flüchtlingen, die als Mechanismus für Notsituationen auch noch auf Dauer angelegt sein soll, sehen sie einen Eingriff in ihre Souveränität. Die Angst ist also eine doppelte: vor dem Fremden und vor einer EU, die sich zur Fremdherrschaft auswachsen könnte.

Das zeigt, wie beängstigend tief das europäische Problem reicht, das sich in der Flüchtlingskrise auftut. Im Westen herrscht Entsetzen über den Diskurs im Osten, in dem Regierungschefs mitunter nicht anders klingen als Dresdner Pegida-Aktivisten. Es erweist sich, dass das Gift aus Jahrzehnten der Diktatur und Abschottung länger nachwirkt als befürchtet. Im Osten indes herrscht Erschrecken über die Praxis geteilter Souveränität im vereinigten Europa. Die aufstrebenden, aber gewiss nicht wohlhabenden Slowaken zum Beispiel erlebten, dass sie für Griechenland und den Erhalt des Euro zur Kasse gebeten wurden. Nun sollen sie, so empfinden sie es, für die offenen Arme der deutschen Kanzlerin den Kopf hinhalten.

Man kann Hilfe für Flüchtlinge nicht durch Strafen erzwingen

Es geht also nicht nur darum, Interessen in Einklang zu bringen, sondern um höchst unterschiedliche Sichtweisen auf die Wirklichkeit. So beklemmend es ist: Trotz eigener Fluchterfahrungen wie in den Jahren 1956 oder 1968 spüren Ungarn oder Tschechen heute mehrheitlich keine Verantwortung, Asyl zu gewähren oder sich solidarisch mit Deutschland zu zeigen. Dieses Verantwortungsgefühl wird sich durch Strafmaßnahmen wie die kurzfristig ohnehin kaum mögliche Kürzung von Fördermitteln nicht erzwingen lassen. Die unter dem Druck heimischer Populisten stehenden Regierungen Mittelosteuropas werden sich auf nichts einlassen, was nach Niederlage aussieht.

In dieser Lage ist derzeit kaum mehr herauszuholen als ein wackliger Kompromiss. Eine Wir-nehmen-keine-Muslime-Politik wird der Rest der EU nie akzeptieren. Die verpflichtende Quote könnte per Mehrheitsbeschluss durchgesetzt werden, was den Graben durch Europa aber vertiefen und eine freundliche Aufnahme der Flüchtlinge im Osten nicht fördern würde. So wird man sich irgendwie zur freiwilligen Aufnahme von Flüchtlingen verpflichten.

Ohne Solidarität trocknet die EU aus. Das muss unermüdlich wiederholt werden. Die Sisyphusarbeit geht weiter.

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