Ostdeutschland:Rechts runter

In den neuen Bundesländern nehmen Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Intoleranz zu. Das stellt ein Bericht der Bundesregierung fest und sieht darin eine "große Gefahr" für die Gesellschaft und die Wirtschaft.

Von C. von Bullion, Berlin

Sie könne "vor dem Aufsetzen rosaroter Brillen nur warnen", sagt Iris Gleicke irgendwann. Und dass sie keine Anzeichen dafür entdecken könne, dass die Lage sich demnächst bessere.

Der Osten Deutschlands kann den Westen bei der Wirtschaftskraft nicht einholen. Und was sozialen Frieden und Toleranz gegenüber Fremden angeht, fallen die neuen Länder in Deutschland erheblich zurück. Das ist ein Ergebnis des Jahresberichts zum Stand der deutschen Einheit, der am Mittwoch vom Kabinett beschlossen und der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. "Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Intoleranz stellen eine große Gefahr für die gesellschaftliche, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder dar", heißt es darin. Die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland sei eine "ernste Bedrohung", sagte die Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke. Sie forderte "entschlossenes Handeln" auf allen Ebenen.

Mehr als 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung gibt es dem Bericht zufolge zwar "enorme Verbesserungen" für die ehemaligen Bürger der DDR. Dazu gehöre neben den privaten Lebensverhältnissen auch der Zustand von Städten und öffentlicher Infrastruktur. Auch zeige sich, dass Ostdeutsche im Schnitt besser qualifiziert seien als Westdeutsche. So haben 33 Prozent der Erwerbstätigen in den neuen Ländern laut Bericht einen Hochschulabschluss. In den alten Ländern sind es nur 29 Prozent. Auch zeige sich, dass die Abwanderung junger und gut qualifizierter Menschen aus dem Osten "vor Kurzem zum Stillstand" gekommen sei. Es bleibe aber eine erhebliche Differenz bei der Wirtschaftskraft.

Freital

Zerrissenes Deutschland: Ob wie hier im sächsischen Freital oder in Bautzen - fremdenfeindliche Krawalle und rechtsextreme Gewalt bedrohen nach Ansicht der Bundesregierung die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands.

(Foto: dpa)

Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner lag 1991 im Osten laut Bericht bei 42,8 Prozent des westdeutschen Niveaus. Bis 2015 stieg es auf 72,5 Prozent. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 9,2 Prozent im Osten um 3,5 Prozentpunkte über der des Westens, die Löhne sind auf 97 Prozent des Westniveaus gestiegen. Eingeholt aber haben die Ostdeutschen die Westdeutschen nicht, und dabei werde es wohl vorerst bleiben, sagte die Ost-Beauftragte der Bundesregierung. Nach wie vor sei die Wirtschaftskraft pro Einwohner im Osten um 27,5 Prozent niedriger als im Westen. "Es deutet nichts darauf hin, dass sich diese Lücke mittelfristig schließen könnte", so Gleicke. Auch liege das reale Wachstum in den neuen Ländern mit 17,2 Prozent in den vergangenen 15 Jahren etwas unter dem der alten. Der Aufholprozess habe sich "deutlich abgeschwächt". Zu den wesentlichen Gründen des anhaltenden Ost-West-Gefälles zählt Gleicke das Verbleiben großer Konzerne im Westen Deutschlands. Dies und die kleinteilige Wirtschaftsstruktur im Osten seien "dominante Erklärungsfaktoren" für die fortbestehende Lücke. Von den 138 als strukturschwach eingestuften Regionen Deutschlands liegen demnach 62 Prozent in Ostdeutschland. Und das, obwohl der Osten nur knapp ein Drittel der Fläche der Bundesrepublik ausmacht und ein Fünftel ihrer Bevölkerung stellt.

Zu einem dramatischen Befund kommt der Jahresbericht beim Thema Fremdenfeindlichkeit. Demnach haben rechtsextremistische Straftaten 2015 den höchsten Stand seit der Einführung des Meldedienstes erreicht. Laut Verfassungsschutz kamen auf eine Million Einwohner in Mecklenburg-Vorpommern 58,7 rechtsextremistische und fremdenfeindliche Übergriffe. In Brandenburg waren es 51,9, in Sachsen 49,6, im westdeutschen Durchschnitt nur 10,5. "Neben unzähligen Angriffen auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte sind gewalttätige Ausschreitungen wie in Heidenau und Freital zu Symbolen eines sich verfestigenden Fremdenhasses geworden", so der Bericht. Dabei zeige sich, dass "die Grenzen zwischen bürgerlichen Protesten und rechtsextremistischen Agitationsformen zunehmend verschwimmen".

West und Ost

• Das durchschnittliche Immobilien- und Geldvermögen liegt bei westdeutschen Haushalten bei 140 000 Euro, bei ostdeutschen Haushalten bei 61 000 Euro.

• 2015 betrug das originäre Steueraufkommen in ostdeutschen Flächenländern 1089 Euro je Einwohner, in westdeutschen Flächenländern 1979 Euro je Einwohner.

• Etwa 20 Prozent der Einwohner Deutschlands leben in Ostdeutschland (12,5 Millionen in den fünf Flächenländern und 3,5 Millionen Personen in Berlin). Bis 2030 könnte der Bevölkerungsrückgang dort trotz Zuwanderung bei etwa einer Million Personen (7 Prozent) liegen.

• Der Wohnungsleerstand in Ostdeutschland wird weiter wachsen. In Berlin, Dresden, Jena, Weimar, Erfurt und Leipzig besteht jedoch ein erhöhter Bedarf an neuen Wohnungen.

Die Ost-Beauftragte der Bundesregierung war sichtlich bemüht, Pauschalurteilen entgegenzutreten. Es gebe in den neuen Ländern wie im Westen "ein großartiges Engagement für Flüchtlinge". Dieses Bild werde aber verdeckt durch Neonazis und Ausländerfeinde. "Die große Mehrheit der Ostdeutschen ist nicht fremdenfeindlich oder rechts", sagte Gleicke, "aber ich würde mir schon wünschen, dass diese Mehrheit sich stärker bemerkbar macht." Ostdeutschland leide schon jetzt wirtschaftlich unter der gesellschaftlichen Radikalisierung. Nur als weltoffene Region habe es gute Perspektiven. Ziel der Bundesregierung müsse es sein, Fremdenfeindlichkeit "entschieden gegenüberzutreten" und alle zu unterstützen, die sich für ein tolerantes Deutschland einsetzten.

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