Orangene Revolution:"Er hat alles falsch gemacht"

Lesezeit: 5 min

Der Schriftsteller Andrej Kurkow über zerplatzte Illusionen, die vielen Fehler des Präsidenten und das Erbe der Orangenen Revolution. Mit Audio-Slideshow.

Matthias Kolb

Vor fünf Jahren begannen in Kiew die Massenproteste gegen die Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl, die in der Orangenen Revolution gipfelten. Die Hoffnung, Präsident Viktor Juschtschenko werde für Demokratie und Wohlstand sorgen, wurde enttäuscht. Niemand beschreibt das Chaos des ukrainischen Alltags pointierter als der 48-jährige Schriftsteller Andrej Kurkow. Sein neuer Roman "Der Milchmann in der Nacht" (Diogenes-Verlag) ist soeben erschienen. Ein Gespräch über Korruption, Schönheitswahn und Anarchie.

Viktor Juschtschenko (l.) und Julia Timoschenko während einer Kundgebung in Kiew. Ihr Bündnis hielt nicht lange. (Foto: Foto: AP)

sueddeutsche.de: Herr Kurkow, in Ihrem neuen Buch vergleichen Sie die Ukraine mit einer alleinstehenden Mutter: "Alle wollen mit ihr schlafen, aber geheiratet wird nicht!" Wer umwirbt die Ukraine?

Andrej Kurkow: Noch vor zwanzig Jahren herrschte bei uns eine sowjetische Polygamie: Es gab einen Vater und 14 Mütter. Russland war natürlich der Mann, um dessen Aufmerksamkeit die 14 anderen Republiken konkurrierten. Die beliebteste Gattin war immer die Ukraine, weil sie groß und schön ist. Außerdem liegt der Ursprung des Russischen Reiches in Kiew.

sueddeutsche.de: Und in den letzten Jahren buhlen auch die Europäer und Amerikaner mit.

Kurkow: Ja, sie versprechen uns viel. Die Leute aus dem Westen kamen und sagten uns, was wir tun müssen, um dazuzugehören. Aber schnell waren sie verschwunden und seit George W. Bush nicht mehr Präsident ist, ändern sich auch die Beziehungen zu den USA. Und keiner hat geglaubt, dass die Europäische Union uns bald als Mitglied akzeptieren würde.

sueddeutsche.de: Sind die Menschen enttäuscht von Europa?

Kurkow: Nein, die Leute sind nicht böse oder unzufrieden. Sie akzeptieren das und beschäftigen sich mit ihren Sachen. Die Jungen setzen weiter auf Europa und gerade in der Westukraine hat sich einiges verbessert: In vielen kleinen Städten regieren Leute, die 35 Jahre alt sind und im Westen studiert haben. Dort gibt es weniger Korruption, die Verwaltung funktioniert und alles läuft zivilisierter als in den großen Städten.

sueddeutsche.de: Wie ist das Verhältnis zu Russland? Wird sich Moskau bei den Wahlen am 10. Januar 2010 wieder einmischen?

Kurkow: Moskau wird alles aufmerksam beobachten, aber nicht so direkt eingreifen wie im November 2004, als der damalige Präsident Putin voreilig Herrn Janukowitsch zum Sieg gratulierte. Es gibt auch keinen Grund, aktiv zu werden: Der antirussische Juschtschenko hat keine Chance und sowohl mit Premierministerin Julia Timoschenko als auch mit Oppositionsführer Viktor Janukowitsch lässt sich verhandeln.

sueddeutsche.de: Amtsinhaber Juschtschenko liegt in Umfragen bei drei Prozent. Was hat er falsch gemacht?

Kurkow: Praktisch alles. Okay, er hat dafür gesorgt, dass Amerikaner und Europäer ohne Visum einreisen können, aber ansonsten hat er sich mehr mit der Vergangenheit beschäftigt als mit der Zukunft des Landes. Die russischsprachige Bevölkerung hat ihn nie akzeptiert, aber er hat auch die Unterstützung in der West- und Zentralukraine verloren, weil er die Korruption trotz seiner Versprechen nicht bekämpft hatte. Stattdessen nimmt die Bestechlichkeit zu. Nicht mal seine Anhänger verstehen, was er macht.

sueddeutsche.de: Sie spielen auf seine Geschichtspolitik an. Welche Projekte sind denn so umstritten?

Kurkow: In vielen Städten stehen nun Denkmäler, die an den Holodomor erinnern - also an die erzwungene Hungersnot 1932/33, bei der etwa drei Millionen Menschen starben. Der Präsident will, dass dies den Ukrainern bei ihrer Nationsbildung hilft. Gleichzeitig fehlt es in den Krankenhäusern an allen Ecken und Enden. In der Kiewer U-Bahn kleben überall Zettel und Plakate mit Kindergesichtern. Darunter stehen Konto- und Telefonnummern, weil ihre Eltern und Stiftungen versuchen, Geld für die Behandlung der Kleinen zusammenzukriegen. Und in der Zeitung steht dann, dass das Holodomor-Hauptdenkmal in Kiew, ein Komplex mit Museum, fast zehn Millionen Euro kosten wird - das ist sehr viel für die Ukraine.

sueddeutsche.de: Das Parlament ist wegen des Parteienstreits seit vergangenem Herbst nicht mehr arbeitsfähig. Hier konnte sich Juschtschenko auch nicht durchsetzen, obwohl die Ukraine vor dem Staatsbankrott steht.

Kurkow: Das Problem ist, dass wir keine ideologischen Parteien haben. Es ist stets ein Kampf zwischen Persönlichkeiten, nicht zwischen Ideen oder Konzepten. Vielleicht hat Juschtschenko sogar eine Vision für das Land, aber diese Ukraine ist nur virtuell und hat nichts mit der Realität zu tun. Die Partei der Premierministerin heißt "BJuT" - das steht für "Block Julia Timoschenko" und natürlich entscheidet nur sie. Die anderen Politiker reagieren nur auf das, was passiert. Sie kämpfen nicht für Werte oder Inhalte.

sueddeutsche.de: In Ihrem neuen Roman schlucken die Politiker und Geschäftsleute Pillen und baden in Muttermilch, um nicht zu altern. Einer erklärt seinen Erfolg so: "Das ist doch für einen Politiker das Wichtigste: Auszusehen wie das blühende Leben, wie ein Schweinchen im guten, natürlichen Sinn!" Ist das Satire oder eine Zustandsbeschreibung?

Kurkow: Das ist ein wenig übertrieben, aber ich würde schätzen, dass jeder zweite Abgeordnete in Schönheitssalons geht und Mittelchen nimmt. Es geht nur um den schönen Schein - und um Geldscheine.

sueddeutsche.de: Angeblich sind mindestens 400 der 450 ukrainischen Abgeordneten Dollarmillionäre, denen es vor allem um ihre eigenen Interessen geht.

Kurkow: Im Plenarsaal gehören sie unterschiedlichen Parteien an und kämpfen gegeneinander - auch mit Fäusten oder indem sie Türen verbarrikadieren, um eine Abstimmung zu verhindern. Das ist nur Show, denn außerhalb des Parlaments sind sie Geschäftspartner, die man später gemeinsam in einem Kiewer Restaurant beim Abendessen sehen kann.

sueddeutsche.de: Immerhin gibt es Journalisten, die aufschreiben, wer mit wem gespeist hat. Hat die Orangene Revolution abgesehen von der Pressefreiheit etwas Positives gebracht?

Kurkow: Ja, die Medien sind frei und berichten über alles. Was von der Revolution geblieben ist? Die Menschen haben verstanden, dass sie etwas ändern können, wenn sie aktiv sind. Außerdem haben sie gelernt, dass sie den ukrainischen Politikern nicht vertrauen können.

sueddeutsche.de: Es waren vor allem junge Leute, die auf dem Majdan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, protestiert haben. Interessieren sie sich eigentlich noch für Politik?

Kurkow: Die junge Generation war damals sehr romantisch und naiv zugleich. Heute sind die jungen Erwachsenen viel zynischer und machen nun als Unternehmer Karriere. Aber sie haben Selbstvertrauen - die Passivität, jenes Erbe der Sowjetzeit, ist verschwunden.

sueddeutsche.de: Sie waren selbst mehrmals mit Schriftstellerkollegen auf dem Majdan. Sind Sie enttäuscht?

Kurkow: Ich hatte erwartet, dass sich etwas mehr verändert und verbessert nach der Revolution. Also bin ich schon ein wenig enttäuscht. Allerdings war mir von Anfang an klar, dass Juschtschenko nur ein Zufallsgewinner und sein Bündnis mit Julia Timoschenko nur Show war. Das Volk liebt Opfer, die sich nicht unterkriegen lassen ...

sueddeutsche.de: ... und Juschtschenko war während des Wahlkampfs mit Dioxin vergiftet worden.

Kurkow: Genau, und die wunderschöne Timoschenko saß in der Kutschma-Zeit für drei Wochen im Gefängnis. Das Volk wollte sie zusammen sehen, aber in Wahrheit verbindet beide wenig, wie die vergangenen Jahre gezeigt haben.

sueddeutsche.de: Wird Timoschenko nun die erste Präsidentin der Ukraine?

Kurkow: Sie hat mehr Chancen als Janukowitsch, auch wenn dieser in den Umfragen noch vorne liegt. Aber er ist nicht charismatisch und erklärt nicht, was er machen will mit dem Land. Lady Ju ist anders: Sie ist rhetorisch brillant, reist durchs ganze Land, ist dauernd im Fernsehen und Rundfunk und verspricht wie immer sehr viel. Die Leute sehen, dass sie anwesend ist - und Janukowitsch eben nicht.

sueddeutsche.de: Welche Probleme muss das neue Staatsoberhaupt als Erstes lösen? Der Gas-Streit mit Russland schwelt ja weiter, die Korruption wächst, die Infrastruktur ist marode.

Kurkow: Es ist sinnlos, hier herumzuphantasieren: Keiner wird etwas unternehmen, was die Leute wirklich brauchen. Der Gewinner wird symbolisch etwas tun, aber beide haben ihre Interessen - und die sind nicht politisch, sondern ökonomisch. Vielleicht wird es dem Land wirtschaftlich besser gehen, weil die Regierung wieder handlungsfähig ist. Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, mit Intellektuellen, Journalisten, Bankiers und Managern. Es gibt eindeutige Meinungen: Die Intellektuellen stimmen für Timoschenko, weil sie keinen Präsidenten wollen, der zwei Mal im Gefängnis saß. Die Geschäftsleute unterstützen Janukowitsch mit dem Argument, dass er die Regeln einhalten werde, die er einführt. Bei Timoschenko wäre das anders, denn sie ist eine Opportunistin und ändert die Regeln jeden Tag.

sueddeutsche.de: Die meisten Figuren in Ihren Romanen würden wohl gar nicht wählen, weil sie zwischen ihren drei oder vier Jobs keine Zeit dafür hätten. Die Protagonistin Irina füttert ihr eigenes Kind mit Milchpulver, um ihre Muttermilch zu verkaufen. Ist das in der Ukraine üblich?

Kurkow: So etwas passiert wirklich. Mir schien es eine gute Metapher für den Zustand der Ukraine zu sein: Das Land tut alles für falsche Leute und für sich selbst macht es nichts.

© sueddeutsche.de/gba - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: