Opposition im Bundestag:Wie Merkel die AfD ignoriert - aber über die Spaltung des Landes spricht

Bundestag

Alexander Gauland, Fraktionsvorsitzender der AfD, vor Bundeskanzlerin Angela Merkel

(Foto: dpa)
  • Nach 171 Tagen Arbeit an der Regierungsbildung hat Angela Merkel eine außergewöhnlich offene Regierungserklärung im Bundestag gehalten.
  • Die Kanzlerin spricht von einer Spaltung des Landes, die von der Flüchtlingspolitik verursacht wurde; außerdem kritisiert sie erstmals den Militäreinsatz der Türkei in Afrin.
  • Anschließend hat Alexander Gauland von der AfD als Oppositionsführer auf die Rede der Kanzlerin geantwortet und ihre Flüchtlingspolitik kritisiert.

Von Jens Schneider, Berlin

Wenn die Kanzlerin in den Bundestag kommt, muss sie an der neuen Partei vorbei. In großem Abstand zur ganz rechts sitzenden AfD geht Angela Merkel die vier Stufen herunter in den Saal zur Regierungsbank. Bevor ihr Weg am AfD-Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland vorbeiführen würde, nimmt sie an diesem Mittwochmittag den Weg durch die zweite Reihe. Sie schiebt sich an den Rücken der Ministerstühle vorbei und setzt sich erst einmal vor Beginn dieser ersten großen Debatte der Legislaturperiode nach hinten zu CSU-Chef Horst Seehofer, dem neuen Bundesinnenminister. Sie plaudern, es wirkt wie ein Moment der Entspannung vor einer der wichtigsten Reden Merkels in ihrer Kanzlerschaft. Unten sortiert Gauland Unterlagen, auch er bereitet sich vor.

Schon fast ein halbes Jahr liegt die Bundestagswahl jetzt zurück, und in den Monaten ging es in diesem Plenarsaal seit dem Einzug der AfD so hitzig und manchmal giftig zu wie vorher Jahrzehnte nicht. Die Kanzlerin hat diese neue Lage während der Sitzungen ignoriert, als ob die AfD gar nicht da wäre. An diesem Mittwoch aber kommt sie um eine Konfrontation nicht herum, nun werden die Fraktionsspitzen der AfD erstmals als Oppositionsführer auf eine Regierungserklärung zur Politik dieser neuen großen Koalition antworten. Und als Merkel am Rednerpult steht, fällt schon mit ihren ersten Worten auf, dass sie diese Herausforderung annimmt, auf ihre Art, ruhig im Ton, nicht einmal wird sie während dieser Rede laut werden oder den Tonfall variieren. Aber in klaren Worten, mit einer ungewöhnlichen Direktheit, offen und deutlich. Sie nennt die AfD nicht, aber spricht mehrmals von der Spaltung des Landes, für die ja auch die Ankunft dieser Partei im Parlament ein Zeichen ist.

Merkel erinnert daran, wie lange es gedauert hat, bis sich eine neue Koalition zusammengefunden hat seit der Wahl im September: 171 Tage bis zur Regierungsbildung, so viele wie bei keiner zuvor. Und sie sagt, dass es dafür einen Grund gibt, der sich auch im Wahlergebnis widerspiegelte, nämlich "dass sich in unserem Land offenkundig etwas verändert hat". Obwohl es Deutschland wirtschaftlich so gut gehe wie seit Jahrzehnten nicht, sei der Ton rauer geworden, der Respekt vor unterschiedlichen Meinungen zurückgegangen.

Und sie nimmt selbst den Satz auf der, wie Merkel es sagt, zu einem Kristallisationspunkt in der Debatte über die Flüchtlingspolitik geworden ist, die "unser Land gespalten und polarisiert hat". Und das, obwohl das doch ein so banaler, alltäglicher Satz sei, den sie häufiger mal im Alltag sagte. Sie meint ihr: "Wir schaffen das!" Über die Frage, "was wir schaffen können und was wir schaffen wollen" angesichts der Ankunft vieler Flüchtlinge ab dem Spätsommer 2015 sei der Streit geführt worden.

"Das war eine unglaubliche Bewährungsprobe für unser Land", sagt Merkel. Eine Aufgabe, auf die das Land nicht vorbereitet sein konnte, so betont sie und befindet dann, dass Deutschland diese Aufgabe im Großen und Ganzen bewältigt habe. "Unser Land kann stolz darauf sein." Sie werde den Menschen im Land für diesen Einsatz immer dankbar sein. Aber sie sagt auch, dass dies eine Ausnahmesituation gewesen sei, die sich nicht wiederholen solle.

Die Politik werde sicherstellen, dass sich "eine Notlage wie 2015 nicht wiederholt". Sie nennt als ein wichtiges Gegenmittel auch die Vereinbarungen mit der Türkei, verurteilt aber deutlich das Vorgehen Ankaras in Afrin als "inakzeptabel".

Der Bundestag hört sich das alles ruhig an. Erst als Merkel erklärt, dass diejenigen Flüchtlinge, "die keinen Anspruch auf Schutz haben, unser Land verlassen müssen", wird rechts, in den mittleren Reihen der AfD Hohngelächter laut.

Auf diesen Moment hat Alexander Gauland lange gewartet

Die Kanzlerin ignoriert das nicht einmal, sie spürt in ihrer Rede weiter der Stimmung im veränderten Land nach, wo sich teilweise "Verdruss, Sorgen, Polarisierung" zu spüren seien. Die Flüchtlingssituation habe wie im Brennglas viele Probleme noch deutlicher zu Tage treten lassen. Sie spricht über Parallelgesellschaften, auch kriminelle Strukturen, die sich gebildet hätten in Kreisen von Migranten. Und sagt zugleich, dass die Mehrheit friedlich sei und erklärt mit Blick auf die 4,5 Millionen Muslime in Deutschland, dass ihre Religion, der Islam, inzwischen ein Teil Deutschlands ist. "Seehofer" ruft da jemand aus der AfD und erinnert so daran, dass aus ihrem Kabinett in dieser Woche der Innenminister das Gegenteil gesagt hat.

Auf jedes Problem, das Merkel nennt, gibt sie eine Antwort, die dem zentralen Vorwurf an diese neue Regierung aus den vergangenen Wochen begegnen soll. Nein, diese Regierung mache nicht weiter wie bisher. "Ein 'Weiter so' kann es gar nicht geben, denn die Welt um uns herum ändert sich gerade epochal." Am Ende zitiert sie sich selbst, ihre erste Regierungserklärung von 2005, unfassbar lange her kommt einem das vor. "Ich bin überzeugt, Deutschland kann es schaffen." Da lacht die AfD laut. Ungerührt macht Merkel weiter: "Und heute füge ich hinzu, Deutschland, das sind wir alle." Es ist eine für sie außergewöhnlich offene Regierungserklärung.

Als wenig später die Abgeordneten der Koalition applaudieren und viele dabei aufstehen, kommt einer dieser Momente, der zeigt, wie sich das Parlament verändert hat. Aus den Reihen der AfD werden die applaudierenden Parlamentskollegen verlacht, einige AfDler schwenken zum Spott ihre ausgebreiteten Arme auf und ab: Ach, ja - steht nur auf!

Es wird ein kurzer Versuch der Abrechnung

Nun soll der Moment für Alexander Gauland gekommen sein. Gauland hatte noch am Dienstagmorgen gesagt, dass ihm "diese Geschichte mit dem Oppositionsführer immer zu anspruchsvoll klingt". Es gehe für die Opposition einfach darum, das was die Regierung vorträgt, heftig oder nicht heftig zu kritisieren. Tatsächlich hat er auf diese Begegnung seit Monaten, sogar Jahren hingearbeitet. All die Erfolge der AfD in den Landtagen, sie waren für den Parteichef nur Stationen auf dem Weg hierher, mit Blick auf diesen Moment. Unter Angela Merkel hat sich die CDU so modernisiert, dass Gauland seine politische Heimat verloren hatte, die Partei nach mehr als vierzig Jahren verließ, wenige Wochen nach der AfD-Gründung im Jahr 2013. Damals sprach er von einem Schmerz und berichtete, dass es ihm nicht leicht falle. Dieser Schmerz treibt den 77-Jährigen an, wenn er Merkel und ihre Politik in einer Heftigkeit angreift, die wenig von dem vornehmen Stil hat, den er als Konservativer in ihrer Partei verkörperte.

Es wird ein kurzer Versuch der Abrechnung. Gauland teilt sich die Redezeit mit seiner Kollegin Alice Weidel, die später am Nachmittag in die Debatte eingreift. So hat er nur wenige Minuten, in denen er mehrmals Bismarck zitiert, mit Blick auf das Verhältnis zu Frankreich, und mit Winston Churchill beginnt, und zwar dem Film "Die dunkelste Stunde", der den britischen Premier ein cineastisches Denkmal setzt. Er wolle die Kanzlerin nicht auf eine Stufe mit Churchill setzen, sagt Gauland, "aber ein bisschen mehr Pathos, ein bisschen mehr Tiefgang hätte ich mir schon gewünscht."

Er wendet sich der Kanzlerin direkt zu, die nur wenige Schritte entfernt sitzt, als wolle er sie stellen. Sie schaut geradeaus, als wäre er nicht da, dann einen Moment nach rechts, in die andere Richtung, danach wieder nach vorn, weg vom Pult, wie unbeteiligt.

Gauland spottet, Merkel habe in ihrer Rede mal "wieder von Deutschen gesprochen", das sei ein Verdienst der AfD. Er hält ihr vor, dass die Öffnung der Grenzen für die Flüchtlinge ein Rechtsbruch gewesen sei, "ein Rechtsbruch, der zum Dauerzustand geworden ist", kein Ende sei da abzusehen. Und er wirft ihr vor, dass für die Flüchtlinge mehr getan werde als für die Armen im Land. "Immer mehr Rentner sind verarmt", sagt Gauland und dreht sich wieder zu ihr hin. Sie schaut geradeaus, streicht einen Fussel von ihrer Jacke. Kurz darauf ist Gaulands Redezeit vorbei, die Kanzlerin blickt kaum auf.

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