Österreichisch-ungarische Grenze 1989:Die Picknicker

Massenflucht von DDR-Bürgern nach Österreich

Jubel und Tränen: Massenflucht von DDR-Bürgern von Ungarn nach Österreich am 19. August 1989

(Foto: picture alliance / dpa)

Vor 25 Jahren öffnete sich ein Tor an der ungarischen Grenze, für ein paar Stunden, während eines "Paneuropäischen Picknicks". Die Mauer begann zu bröckeln. Es hätte auch alles ganz anders ausgehen können, wären da nicht zwei Freunde gewesen.

Von Cathrin Kahlweit, St. Margarethen

Gäbe es die beiden Männer nicht, man müsste sie erfinden. Seit 1967 befreundet, zusammen alt geworden - und die Schicksale so eng miteinander verknüpft, dass einer die Sätze des anderen vollendet. Gemeinsam sitzen sie an einem Holztisch im ehemaligen Niemandsland bei Mörbisch im Burgenland: Zwei freundliche, ergraute Rentner.

Am 19. August 1989 fand hier das Paneuropäische Picknick statt, bei dem die ersten DDR-Bürger in jenem unglaublichen Sommer ein offenes Tor nutzten für den Weg in den Westen. Unter anderen Umständen hätten die beiden Männer vier Jahrzehnte lang ihren Dienst am Staat geleistet und wären dann mit einer goldenen Uhr verabschiedet worden. Und sie wären zwar befreundet gewesen, hätten sich aber nie besuchen dürfen.

Stattdessen haben sie Geschichte geschrieben. Und was heute in ihren Erzählungen anekdotisch klingt, war eine Lebenszeit lang ihre gemeinsame, meist tragische Aufgabe: Oberstleutnant Árpád Bella aus Ungarn und der Chefinspektor des österreichischen Zolls, Johann Göltl, bewachten, jeder auf seiner Seite, die mit Minen und Stacheldraht gesicherte Grenze.

Wenn sie einander vor jenem historischen Tag im Sommer des Mauerfalls etwas zu sagen hatten, rein dienstlich, dann durfte Bella nicht hinübergehen zu Göltl, sondern der Ungar musste ausreisenden Touristen einen Zettel mitgeben, auf dem stand: "Komm mal rüber", von West nach Ost, sozusagen.

Bella, mittlerweile 68 Jahre alt, war mit einer Ungarin verheiratet, die der deutschen Minderheit angehörte, er konnte gut Deutsch. Dann kam Göltl, mittlerweile 74, auf die ungarische Seite, und die beiden Männer besprachen, was es zu besprechen gab im Alltag an einer winzigen Grenzstation am Neusiedler See.

Die zwei erlebten viele Fluchtversuche, sie sahen Menschen an ihrer Grenze sterben. Göltl ("Árpád, soll ich das sagen oder du?") erzählt von einem türkischen Sattelschlepper, den drei Männer in Budapest gestohlen hatten und mit dem sie die Grenzsperren durchbrechen wollten. Zwei Barrieren schafften sie, dann raste der Truck in stehende Autos. Der Wagen kippte um, die eine Hälfte lag auf ungarischem, die andere auf österreichischem Gebiet.

Systemwidrige Freundschaft

Ungarische Grenzer schossen wie wild, ein Mann konnte sich aus dem Führerhaus auf die westliche Seite retten, die beiden anderen blieben zurück. "Sie konnten nicht um Hilfe rufen. Wir haben erst später gemerkt, dass alle drei Flüchtlinge taubstumm waren. Eine wahnsinnige Geschichte."

Bella nickt, jetzt ist er dran. Erzählt von einem Mädchen, das von einem Fluchthelfer in einem Wagen hinausgeschmuggelt wurde aus Ungarn, der Motor so weit vorgebaut, dass sie dahinter, in einer mit Asbest eingefassten Mulde, liegen konnte. "Als sie auf meiner Seite herauskletterte, hatte sie trotzdem schwere Verbrennungen am Bein", ergänzt Göltl. Bella nickt wieder, er hat es gesehen, damals, aber er konnte nicht helfen. Er war auf der anderen Seite.

Und so wäre das mittlerweile historische Paneuropäische Picknick, mit dem - so der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl - der erste Stein aus der Mauer gebrochen wurde, vielleicht gar nicht so historisch geworden, wenn da nicht Bella und Göltl gestanden hätten. Ein Vertreter des kommunistischen Ostens und einer des kapitalistischen Westens, die sich, völlig systemwidrig, kannten und vertrauten.

"Hier geht es nach Österreich"

An jenem Tag hatten lokale Vertreter des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF), einer kleinen, neuen Oppositionspartei des Ostblocklandes, das sich längst in einem tief greifenden Wandel befand, sowie Mitorganisatoren auf der österreichischen Seite eine grenzübergreifende Aktion geplant, genehmigt von den lokalen Behörden. Die Paneuropa-Union von Otto Habsburg und der reformorientierte ungarische Politiker Imre Pozsgay firmierten als Schirmherren, Flugblätter wurden in der Gegend ausgeteilt, auf denen von einer symbolischen Grenzöffnung für drei Stunden die Rede war.

Wochen zuvor hatte es bereits einen ähnlichen, symbolischen Akt gegeben, als Ungarns Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Kollege Alois Mock bei Klingenbach gemeinsam ein Teilstück des Grenzdrahtes durchschnitten. Zu diesem Zeitpunkt war Ungarn bereits der Genfer Konvention beigetreten, die Minen waren abgebaut worden, es gab die Weisung, nicht mehr auf Flüchtende zu schießen.

Österreichisch-ungarische Grenze 1989: Früher standen sie an der gleichen Grenze, doch auf gegenüberliegenden Seiten: Johann Göltl (links) und Árpád Bella.

Früher standen sie an der gleichen Grenze, doch auf gegenüberliegenden Seiten: Johann Göltl (links) und Árpád Bella.

(Foto: oh)

Hunderte, Tausende DDRler waren daher an den Neusiedler See gepilgert, hier gab es eine grüne Grenze, hier gab es erste Zeichnen einer politischen Öffnung. Die meisten sammelten sich damals um das Gasthaus Diana in Fertőrákos, von dort aus sind es nur knapp drei Kilometer ins nahe Mörbisch; von den Hügeln über dem Dorf auf ungarischer Seite am Neusiedler See kann man die Kirchturmspitze des Grenzortes im Nordosten sehen.

Karl Kanitsch, ORF-Moderator, hat damals gemeinsam mit seinem Bruder und dessen Frau Dutzenden Flüchtlingen hinübergeholfen, Kompasse verteilt, Fluchtwege beschrieben, auf der grünen Grenze Schilder an die Bäume genagelt: "Hier geht es nach Österreich." Sogar eine Frau mit einem gebrochenen Bein hätten sie durch den Wald getragen. "Es war eine irre Zeit. Für uns Freiheit und Abenteuer, für die DDR-Bürger Freiheit und Drama", sagt Kanitsch und ergänzt bewegt: "Wir wussten aber auch immer: Da passiert was ganz Großes - und wir sind dabei!"

Der 19. August wurde dann, völlig unvermutet, richtig groß. Das Picknick war für 16 Uhr angesetzt, Göltl und Bella standen mit jeweils ein paar Mann am Tor herum, aber schon gegen 15 Uhr "brachen Flüchtlinge zu Hunderten aus den Büschen, rannten über die schmale Straße, drängten durch das Tor, riefen 'Freiheit, Freiheit!'", erzählt Bella, und Göltl nickt gerührt: "Mir ist, als wäre das heute gewesen."

Babys fielen aus Kinderwagen, Männer brüllten

Der Ungar ließ die Flüchtlinge gewähren, "wir sollten ja nur die Grenzformalitäten abwickeln mit den Gästen, die aus Österreich zum Picknick kommen wollten. Und aufhalten hätten wir eh niemanden können." Babys seien aus Kinderwagen gefallen und wieder hineingeworfen worden, Frauen hätten geweint, Männer gebrüllt, es sei eine ungeheure Erregung in der Luft gewesen, ergänzt sein Freund Göltl, aber beide hätten gewusst: "Wenn wir jetzt was unternehmen, gibt es eine Panik."

Einem kleinen Jungen haben die beiden dann noch gemeinsam zur Flucht verholfen. Nach etwa einer halben Stunde nämlich, mittlerweile waren - in mehreren Wellen - etwa 600 Menschen durch das Tor gerannt, waren Vorgesetzte von Árpád Bella aufgetaucht, gefolgt von zwei Lkws mit je 50 Mann. Das Grenztor stand nur noch wenige Zentimeter offen, der Stabschef der Kompanie brüllte Bella an, es werde ein Verfahren gegen ihn geben, da trat Göltl auf die andere, die falsche Seite und lenkte den Offizier ab.

Auf seinem, dem österreichischen Terrain nämlich stand eine Mutter, die hatte es hinübergeschafft, aber ihr Sohn war zurückgeblieben, er weinte auf der ungarischen Seite des Tors. "'Dann gehe ich eben wieder zu den Kommunisten', hat die Frau verzweifelt gerufen, da bin ich rüber und habe einem meiner Beamten gesagt, er soll den Jungen still hinausbegleiten, während ich rede." Das hat geklappt, Göltl sprach mit dem Vorgesetzten von Bella, der schwieg und schaute weg. Freunde an einem schicksalhaften Tag.

Auf einem Staatsakt in Eisenstadt, mit dem Österreich "25 Jahre Fall des Eisernen Vorhangs" feierte, zitierte Festredner Horst Teltschik, damals außenpolitischer Berater von Helmut Kohl, vergangene Woche den damaligen Premier Miklós Németh. Ungarns Regierung habe von der kurzzeitigen Grenzöffnung gewusst und herausfinden wollen, ob der Kreml Truppen schicken oder den symbolischen Akt zum Grenzabbau tolerieren würde. "Es war ein Wunder, dass damals alles unblutig ablief", erklärte Németh später.

Árpád Bella sagt das plastischer: "Wenn Gorbatschow damals ,Njet' gesagt hätte, dann hätte ich für das, was ich an jenem Tag getan habe, fünf Jahre gesessen."

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