Österreich:Wieder auf Anfang

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Die Hofburg in Wien ist der Amtssitz des österreichischen Bundespräsidenten. Wer dort als nächstes einzieht, hängt auch vom Verfassungsgericht ab. (Foto: Alexander Klein/AFP)

Mit winzigem Vorsprung hat der Grüne Van der Bellen Österreichs Präsidentenwahl gewonnen. Die unterlegene FPÖ ficht das Ergebnis nun an - mit guten Chancen.

Von Ruth Eisenreich, Berlin

Was hatten sie gebangt und gezittert, die Österreicher und mit ihnen das politisch interessierte Europa. Exakt 50 : 50 stand es am Abend der Stichwahl um das Bundespräsidentenamt. Mit dieser Unsicherheit mussten die Österreicher schlafen gehen, erst am nächsten Nachmittag gab es ein Ergebnis - und nun könnte das Zittern und Bangen von vorne beginnen. Denn die weit rechts stehende FPÖ, deren Kandidat Norbert Hofer schließlich hauchdünn unterlag, hat den zweiten Wahlgang der Bundespräsidentenwahl angefochten. Am Montag begann die mindestens viertägige Zeugenvernehmung vor dem Verfassungsgerichtshof in Wien, 90 Zeugen sollen gehört werden.

Die Unsicherheit betrifft ausgerechnet die wichtigste Bundespräsidentenwahl seit Langem: Die Kandidaten der Mitte-Parteien waren schon im ersten Wahlgang ausgeschieden, Favorit für die Stichwahl am 22. Mai war der FPÖ-Kandidat Hofer. Am Abend der Stichwahl führte er im vorläufigen Endergebnis ohne Briefwahlstimmen; in den Hochrechnungen mit Briefwahl lag der ehemalige Grünen-Chef Alexander Van der Bellen vorn. Der erste weit rechts stehende Bundespräsident Westeuropas, das machte auf dem ganzen Kontinent vielen Angst. Sie fürchteten, ein Sieg Hofers würde Signalwirkung weit über das kleine Österreich hinaus haben und den Rechtsruck Europas besiegeln.

Als am Montag nach der Wahl der Innenminister vor die Kameras trat und das offizielle Ergebnis inklusive Briefwahl verlas, konnten die besorgten Europäer aufatmen: 50,3 Prozent für Van der Bellen, ein Vorsprung von exakt 30 863 Stimmen. Nicht der deutschnationale Burschenschafter Hofer würde Österreich in Zukunft repräsentieren, der gedroht hatte, eine nicht genehme Regierung einfach zu entlassen, sondern der bedächtige Wirtschaftsprofessor Van der Bellen, ein nicht besonders weit links stehender Grüner, Flüchtlingskind mit estnischen Eltern noch dazu.

In vielen Gemeinden wurde beim Auszählen der Stimmen offenbar geschlampt

Und nun also die Anfechtung, 152 Seiten lang, verfasst von der Kanzlei eines ehemaligen FPÖ-Justizministers. Beobachter taten sie anfangs als chancenlos ab, doch nun halten mehrere Verfassungsjuristen einen Erfolg für möglich. "Die Quantität und die Qualität der Vorwürfe sind hoch", sagte etwa der ehemalige VfGH-Präsident Ludwig Adamovich in einem Interview mit dem Standard. Das Gericht hat bereits alle anderen anstehenden Verhandlungen verschoben, um sich ganz auf die Anfechtung konzentrieren zu können. Denn es steht unter Zeitdruck: Am 8. Juli soll der neue Präsident vereidigt werden.

Die FPÖ nennt in dem Dokument eine ganze Reihe an Anfechtungsgründen. Manche sind eher skurril, etwa Punkt 4.1., wonach "auf Wahlberechtigte ein erheblicher psychischer Druck ausgeübt worden" sei, weil Wähler Fotos ihrer ausgefüllten Stimmzettel in den sozialen Medien gepostet hatten. Das hatte allerdings FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache ebenfalls getan, am Wahltag um 6.45 Uhr auf seiner Facebook-Seite mit etwa 370 000 Fans.

Andere Begründungen haben mehr Substanz. Die FPÖ hat eidesstattliche Erklärungen von Wahlbeisitzern eingesammelt, in denen diese von Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Briefwahlstimmen berichten. Vielerorts wurden offenbar aus Zeitnot die sogenannten Wahlkarten - die Umschläge, in denen die Kuverts mit den Stimmzetteln eingeschickt werden - früher geöffnet als erlaubt, oder die Stimmzettel wurden von nicht zuständigen Personen ausgezählt. Das Verfassungsgericht muss nun entscheiden, ob die vielen Formfehler zusammen das Potenzial hatten, das Wahlergebnis zu verfälschen.

Am ersten Verhandlungstag waren Wahlleiter und Beisitzer aus mehreren Wahlbezirken als Zeugen geladen. Ihre Aussagen deuten darauf hin, dass Schlampereien und eine äußerst laxe Auslegung der Regeln in vielen österreichischen Wahlbehörden seit Jahren gang und gäbe sind. "Das wusste ich nicht", "ich bin davon ausgegangen, dass das korrekt war", "das war immer schon so": So geben anwesende Journalisten die Antworten der Zeugen auf Fragen nach Unregelmäßigkeiten wieder. Eigentlich sollten die von den Parteien entsandten Beisitzer am Tag nach der Wahl ab neun Uhr gemeinsam mit dem Wahlleiter die Briefwahlstimmen auszählen. Tatsächlich tauchten sie vielerorts offenbar erst am Nachmittag auf, um das Ergebnis und das Protokoll der Auszählung per Unterschrift zu bestätigen. Das könnte für sie nun auch persönlich Konsequenzen haben: Die österreichische Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ermittelt gegen eine Reihe von Wahlleitern und Beisitzern wegen des Verdachts auf falsche Beurkundung.

Mit einer Entscheidung über die Wahlanfechtung ist wohl erst Anfang Juli zu rechnen. Sollten die Verfassungsrichter der FPÖ recht geben, müsste die Wahl zum Teil oder - die wahrscheinlichere Variante - komplett wiederholt werden. Norbert Hofer hätte dann eine neue Chance, der erste rechte Bundespräsident Westeuropas zu werden.

© SZ vom 21.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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