Wiener Republik:Österreich - ein Land in Schieflage

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Vier Männer im Nationalrat, von denen drei die Chance auf die Kanzlerschaft haben nach der Parlamentswahl am 15. Oktober: Rechtspopulist Strache (FPÖ, am Rednerpult), Außenminister Kurz (ÖVP, li.) und Kanzler Kern (SPÖ, re.). Vizekanzler Brandstetter (ÖVP) will kein Regierungschef werden. (Foto: REUTERS)

Der Journalist Hans-Peter Siebenhaar hat ein bitteres Buch geschrieben, nicht nur wegen der Wiener Politik und wegen Sebastian Kurz. Ihm ist ein gut begründeter Rundumschlag gelungen.

Rezension von Cathrin Kahlweit

Wer Hans-Peter Siebenhaar, den Korrespondenten des Handelsblatts in Österreich, kennt, der weiß, dass dieser ein ausnehmend freundlicher, ja sanfter Mensch ist. Er wird nie laut, ist zurückhaltend und gut erzogen. Und nun schreibt er dieses Buch?

Ein Buch voller harter, entschiedener Urteile, schockierend klar, traurig und ätzend. Er schreibt über Österreich, über das Land, in dem er lebt und arbeitet und das gerade aus einer Regierungskrise heraus - und in vorgezogene Neuwahlen hineinschlittert.

Und so ist es kein Wunder, dass Siebenhaar in der Einleitung von einer Freundin erzählt, die auf seine Ankündigung, er wolle ein Buch über die zerrissene Republik schreiben, entsetzt ausruft: "Du gehst weg von Österreich!" Er verneint; aber sie warnt: Wer als Deutscher kritisch über Österreich schreibe, verderbe es sich mit allen. Eigentlich könne er danach nur fortgehen.

Nun, Siebenhaar will bleiben, aber er ist das Risiko eingegangen, es sich mit allen zu verderben, und man muss sagen: Es hat sich gelohnt. Der Titel seines Buches erinnert, vielleicht bewusst, an das Standardwerk des österreichischen Zeitgeschichtlers Oliver Rathkolb: "Die paradoxe Republik", in dem dieser die Entwicklung Österreichs seit dem Zweiten Weltkrieg mit dem Skalpell seziert.

Die FPÖ hat das Unerhörte alltäglich gemacht

Siebenhaar benutzt, durchaus kundig und gut begründet, den Hammer. Der Wettlauf um den maximalen Populismus zwischen Regierung und Opposition sei ein politisches Rattenrennen, schreibt er, das Zweiparteiensystem unfähig zur Modernisierung.

Die Flüchtlingsobergrenze, die mit einer Art Notstandsgesetzgebung verbunden sei, hebele Menschenrechte aus. Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus hätten in Österreich seit Jahrzehnten eine Heimat.

Den "Teflon-Politiker" Sebastian Kurz, Außen- und Integrationsminister, der als neuer starker Mann der ÖVP und Spitzenkandidat in die Herbstwahlen geht, nennt er einen Meister der medialen Selbstinszenierung, der Europa zu einem "Europa der Egoisten" zu machen suche. Unter den FPÖ-Bossen Heinz-Christian Strache und Norbert Hofer sei "das Unerhörte alltäglich geworden".

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Und Christian Kern, der Hoffnungsträger nach dem kraftlosen Kanzler Werner Faymann, habe vieles angekündigt, sei aber auch vieles schuldig geblieben. Weshalb, siehe oben, aufgrund des Rattenrennens der Populisten auch seinem Höhenflug ein Absturz folgen dürfte.

In diesen ersten Kapiteln über Europa, den Rechtspopulismus und die Volksparteien argumentiert Siebenhaar bisweilen redundant. Expliziter, detaillierter wird er auf dem Feld, von dem er als Korrespondent eines Wirtschaftsblattes noch mehr versteht: beim Standort Österreich, der im bereits angelaufenen Wahlkampf eine wichtige Rolle spielt. Wo hängt Österreich hinterher und warum - auch darum wird es in diesem Sommer gehen.

Bei seinen Ausflügen in die Welt der Investoren und Staatsunternehmen, der Oligarchen und Industriellen, der Tourismus- und Marketing-Könige wird Siebenhaars Buch somit zu einer gut belegten Abrechnung, von der auch Österreicher viel lernen können.

Wegen seiner überbordenden Bürokratie, zu hoher Steuern, einer zu hohen Staatsquote und einer diffusen Wirtschaftsfeindlichkeit, gepaart mit fehlender Kritikfähigkeit, Ignoranz und inkompetenten Entscheidern, falle das Land als Wirtschaftsstandort immer weiter zurück, schreibt Siebenhaar; da helfe auch die hohe Lebensqualität nichts. Deshalb blieben ausländische Investoren aus, deshalb suchten immer mehr einheimische Unternehmer ihr Heil im Ausland.

Unter Ex-Kanzler Faymann, so Siebenhaar, sei der Gesprächsfaden der Regierung zu den Unternehmern komplett abgerissen; er hat nun immerhin die begründete Hoffnung, dass der ehemalige Topmanager Christian Kern das besser macht.

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Aber: Unternehmen und Banken seien vom inneren Zirkel der Macht bis heute ausgeschlossen, ein kompliziertes Kammernsystem habe ihre Interessen in den übermächtigen politisch-administrativen Komplex eingewoben. Man muss Siebenhaar nicht in seiner Begeisterung für die Russland-Geschäfte des Staatsunternehmens OMV oder für die Großinvestitionen des Stahlunternehmens Voestalpine in den USA folgen.

Aber wenn er die Unbeweglichkeit der ÖBIB, der gesammelten Bundes- und Industriebeteiligungen, mit ihren 100 000 Arbeitern und Angestellten, ihrer üppigst ausgestatteten Holding-Chefs und dem vergleichsweise niedrigen Gewinn geißelt, dann hat er gute Argumente.

Und wenn er die Liebedienerei gegenüber Autokraten wie Wladimir Putin anprangert oder den Opportunismus gegenüber einem ukrainischen Oligarchen wie Dmitrij Firtasch, der sich in Wien als "seriöser Entrepreneur" inszenieren durfte, wenn er aufzählt, wie viele "Schattenmänner aus dem Osten" in Wien eine Heimat gefunden haben, ohne belangt oder auch nur beargwöhnt zu werden, dann versteht man seine Schlussfolgerung: Diese Anbiederei sei der Beleg dafür, "dass sich Anstand und Ehrlichkeit nicht auszahlen".

Und da hat man das Kapitel über Dietrich Mateschitz, den Red-Bull-Chef, noch nicht mal gelesen, über sein Landgrabbing, sein Immobilienimperium, sein Selbstverständnis als "Feudalherr", der Kritik nicht erträgt und dessen Name überall da sakrosankt ist, wo er Besitz hat - und er hat fast überall in Österreich Besitz.

Siebenhaar erzählt, fassungslos, noch einmal die Geschichte vom Betriebsrat, den die Mitarbeiter im Mateschitz-Sender Servus TV gründen wollten. Und er ist nicht nur fassungslos über die Reaktion, denn Drohungen von Eigentümern gegen Belegschaften sind ja keine Seltenheit, sondern er ist fassungslos über die Kumpanei der Gewerkschaft und das Schweigen der Politik.

Schönrederei hilft nicht mehr

Man merkt: Siebenhaar, der auch Präsident des Vereins der Auslandspresse in Wien ist, ist verstimmt. Enttäuscht. Er findet die Kunst beliebig und die Theaterlandschaft unpolitisch, die Salzburger Festspiele konventionell und den Umgang mit der Vergangenheit borniert. Es ist ein Rundumschlag. Wo das Positive bleibt?

Positiv ist, dass aus jeder fundierten, ehrlichen, konstruktiven Kritik Neues erwachsen kann. Schönrederei, schreibt Siebenhaar, helfe nicht mehr, Österreich müsse sich neu erfinden. Das nun ist leicht hingeschrieben, aber schwer getan.

Denn über diesem schönen Land, das sich bei nur knapp neun Millionen Einwohnern neun Bundesländer, 95 Bezirke mit Bezirkshauptleuten, Magistraten und Tausenden Beamten leistet, liegt in den Augen von Hans-Peter Siebenhaar ein Spinnennetz von Traditionalismus und Vollkasko-Mentalität. Und beide sind so erstickend wie bequem.

Hans-Peter Siebenhaar: Österreich - die zerrissene Republik. Orell Füssli Verlag, Zürich 2017. 256 Seiten, 19,95 Euro.

© SZ vom 29.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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