Ökonomie:Weltretter wider das Wachstum

Kapitalismuskritiker werben für radikale Ideen, um die Menschen vom Joch des Immer-mehr und des Konsumismus zu befreien - um sie damit glücklicher zu machen. Doch mancher schießt übers Ziel hinaus.

Von Felix Ekardt

Die Fixierung auf Wirtschaftswachstum und egoistisches Konkurrenzdenken wird von vielen - mal zustimmend, mal kritisch - als prägendes Merkmal einer globalisierten Welt erlebt. Ein neues Handbuch von zahlreichen Autoren der französischen, spanischen und italienischen wachstumskritischen Szene beleuchtet in gut 50 Stichwörtern auf etwa 300 Seiten dazu ein radikales Gegenprogramm. Avisiert wird eine Ökonomie, die nicht nur den Wachstumsgedanken aufgibt, sondern sich auf Degrowth (Schrumpfung) ausrichtet. Das Degrowth-Handbuch bleibt dazu nicht bei wohlbekannten Aussagen darüber stehen, dass in einer endlichen Welt kein ewiges Wachstum möglich ist oder dass Wachstum den Ärmeren nichts nütze. Der Ansatz ist deutlich radikaler.

Das moderne Autonomiestreben führe zu immer mehr Konsum, was kaum jemanden glücklicher mache, soziale Krisen verursache und für den Planeten untragbar sei. Dass jeder selbst sein Glück auch in materieller Hinsicht suchen dürfe, in den Grenzen der Freiheit anderer, sei zu hinterfragen. Propagiert wird stattdessen von vielen der Buchautoren, dass jedem Menschen ein Minimum und zugleich Maximum an materiellen Gütern für die Grundbedürfnisse zustehen müsse. Mehr zu haben, soll kurz gesagt unterbunden werden, anders sei ein Ende des Konsumismus nicht möglich. Wenn Gesellschaften mehr materielle Werte als dieses Existenzminimum erwirtschafteten, solle vielmehr kollektiv das Geld in gemeinsame Projekte investiert werden. Wichtig ist den Autoren dabei, dass es keine ökonomisch nützlichen Projekte sein sollten. Mehrfach positiv erwähnt wird stattdessen der Bau von Pyramiden im alten Ägypten als gemeinsames sinnstiftendes Projekt.

Man fühlt sich erinnert an die einstige Begeisterung für Diktatoren wie Mao

Letztlich wird so die aufklärerische Leitidee individueller Autonomie auf den Kopf gestellt. Selbstbestimmung soll es sozusagen nur noch kollektiv geben. Ausgerechnet die Errichtung größenwahnsinniger orientalischer Grabmäler, die Tausende Bauern durch Zwangsarbeit zu Tode brachte, als positives Beispiel zu empfehlen, lässt den Leser stocken. Man fühlt sich erinnert an die Begeisterung von Siebziger-Jahre-Studenten für Diktatoren wie Mao mit seiner Kulturrevolution oder gar Pol Pot, der mit seinem Steinzeit-Kommunismus der Idee eines vorsätzlichen ökonomischen Minimalismus unter Ausrottung jeglichen zivilisatorischen Klimbims schon recht nahe gewesen sein dürfte. Dass das Handbuch hier keine klare Abgrenzung anzustreben scheint, macht jedenfalls nachdenklich.

An Indian activist mimicks capitalism's hunger toward workers

Böser Kapitalismus: Globalisierungskritiker sehen die Ökonomie des Immer-mehr als Ursache allen Übels. Im Bild eine Demo in Bombay, 2004.

(Foto: Emmanuel Dunand/AFP)

Unklar bleibt auch, warum man etwa mehr Umweltschutz nicht so angehen soll, dass man einen zu großen Umweltverbrauch besteuert oder auch verbietet, um der Freiheit des einen im Interesse der Freiheit aller anderen Leitplanken zu geben. Dieser prinzipiell sehr aussichtsreiche Ansatz wird nicht dadurch falsch, dass er bisher nicht ernsthaft angegangen wird. Völkerrechtliche Vorgaben wie der Stopp des Artensterbens oder das 1,5-Grad-Ziel im Pariser Klimaabkommen unterstützen diese Denkrichtung. Durch neue wachstumstaugliche Technologien wie erneuerbare Energien und Energieeffizienz allein wird das nicht zu erreichen sein. In den Industriestaaten wird auch mehr Genügsamkeit gefragt sein: nicht nur technisch intelligenter Auto fahren, sondern einfach weniger Auto fahren. Damit ist man vermutlich beim Postwachstum. Doch warum muss man dafür gleich die Idee individueller Autonomie beerdigen? Geht es nicht vielmehr darum, genau diese Idee heute gegen diverse Bedrohungen wie Überwachung, religiösen Fanatismus und eben auch die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen zu verteidigen?

Die Degrowth-Fans mögen antworten: Eine Welt ohne Fokus auf die individuelle Autonomie mache den Menschen glücklicher, denn er sei in Wirklichkeit altruistisch und kooperativ und werde vom Kapitalismus deformiert. Doch ist die Glücksforschung weit weniger eindeutig in ihren Ergebnissen. Mehr haben kann sehr wohl glücklich machen. Nicht jeder träumt vom genügsamen Leben in der Kommune. Auch dass man mit dem Kapitalismus, der bereits durch klarere Umweltregeln in Richtung mehr Genügsamkeit infrage gestellt wäre, zwingend die individuelle Autonomie anzweifeln muss, ist zu kurz gesprungen.

Solche radikalen Alternativen erinnern an die US-amerikanische Rechte, die auch nur wirtschaftsliberal grenzenlose Freiheit oder als totales Gegenteil den Sozialismus als politische Optionen kennt. Eher als marxistischer Mythos erscheint auch die Vorstellung, dass eine Welt ohne Kapitalismus automatisch voller altruistischer Menschen wäre. So einflussreich die kapitalistische Kultur auch ist: Schon evolutionsbiologisch dürften Menschen eine gewisse Neigung zum Egoismus haben. Ohne direkt lebensgefährliche Bedingungen wie in der Steinzeit ist unsere Neigung zur Kooperation oft begrenzt. Besonders gilt das, wenn die Kooperation anders als in grauer Vorzeit über Kleingruppen hinausgehen muss, etwa bei globalen Problemen wie dem Klimawandel.

Die wirklich zu diskutierenden Probleme bleiben bei alledem auf der Strecke. Bislang hängen vom Wachstum zentrale gesellschaftliche Institutionen ab, etwa der Arbeitsmarkt, das Rentensystem, die Banken und das System der Staatsverschuldung. Ideen, wie es hier ohne Wachstumszwang gehen könnte, sind über Einzelpunkte wie Arbeitszeitverkürzung bislang kaum hinaus gelangt. Erst recht fehlen Ansätze für die schwierige Übergangsphase in die Zeit nach dem Wachstum - ohne massive Brüche und soziale Unruhen, wie sie zuletzt in den Eurokrisen-Staaten zu erleben waren, wo innerhalb kürzester Zeit Wachstum in Schrumpfung verkehrt wurde. Genau darüber müsste man reden, wenn mehr Genügsamkeit schon für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen nötig ist. Doch dafür gleich Kernideen der Aufklärung zu beerdigen, schießt über das Ziel hinaus.

Wendet man all das positiv, kann man sagen: Die Degrowth-Handbuchautoren haben ein anregendes Buch geschrieben, mit dem sich die Auseinandersetzung lohnt.

Felix Ekardt leitet die Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig und Berlin und lehrt an der Uni Rostock.

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