Ökonomie:Vom rechten Quantifizieren

Ein neuer Band blickt auf Wachstum und die Arbeitswelt von morgen. Die Autoren betrachten darin die "ganze Arbeit", also formelle Erwerbsarbeit und informelle Arbeit zusammen. Das eröffnet neue Perspektiven und zeigt ein neues Verständnis von Arbeit.

Von Hans-Jochen Luhmann

Globale Herausforderungen gibt es viele, und Kapazitäten zur Lösung sind knapp - beides passt nicht zusammen. Eine wirkliche Ordnung, qua "Weltinnenpolitik", ist weiterhin nicht in Sicht. Beiderlei Mangel führt zu einer blutigen Schleifspur. Angesichts dessen liegt es nahe, abstrakter anzusetzen, bei einer gemeinsamen Ursache multipler Krisen. Mit einem solchen Ansatz ist der zentralen Knappheit, der politischer Ressourcen, eher gerecht zu werden.

Als Ergebnis einer solchen Analyse ist die Wachstumsabhängigkeit fortgeschrittener Industriestaaten zum Syndrom erklärt worden, welches einer Medizin bedarf. Die Stiftung "Forum für Verantwortung", für die Klaus Wiegandt steht, teilt diese Sicht. Sie präferiert zudem den Blick vom Ende, vom Zustand einer Lösung her, auf die Probleme der Gegenwart. Zur Verfasstheit der Arbeit in einer "Postwachstumsgesellschaft" wurde Hans Diefenbacher um eine Studie gebeten.

Ökonomie: Hans Diefenbacher, Oliver Foltin, Benjamin Held u.a.: Zwischen den Arbeitswelten. Der Übergang in die Postwachstumsgesellschaft. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2016. 415 Seiten, 13,99 Euro. E-Book: 12,99 Euro.

Hans Diefenbacher, Oliver Foltin, Benjamin Held u.a.: Zwischen den Arbeitswelten. Der Übergang in die Postwachstumsgesellschaft. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2016. 415 Seiten, 13,99 Euro. E-Book: 12,99 Euro.

Diefenbacher ist Professor für Ökonomie und zugleich an der Forschungsstätte der Evangelischen Kirchen (FESt) tätig. Er dirigiert dort ein Team, die Verfasser des Buches, welches grundsätzliches Begriffliches mit quantitativem Denken bestens verbindet. Mit regelmäßig aktualisierten Arbeiten zum Nationalen Wohlstandsindex 2.0 hat Diefenbacher erwiesen, zu welch überraschenden Ergebnissen kommen kann, wer nicht im Begrifflichen verbleibt, sondern in den Wettstreit um das rechte Quantifizieren eintritt. Beim Wirtschaftswachstum gilt, recht gemessen: Seit zwei Dezennien bereits sind wir in der Stagnation angekommen.

(Auch) bei der Wirtschaftsleistung ist der gemessene Teil nicht das Ganze. Dasselbe gilt für die Arbeit. Gepflegt wird im Buch der Blick auf die 'ganze Arbeit', das heißt auf die Summe von formeller Arbeit (=Erwerbsarbeit) und informeller Arbeit. Informelle Arbeit ist nicht alles, was befriedigt und also Einkommen im weitesten Sinn bringt, sondern lediglich das, was "der Arbeitsteilung zugänglich" ist.

So, recht gemessen, ergibt sich, dass Männer wie Frauen je etwa 45 Stunden pro Woche "arbeiten" - der Unterschied besteht lediglich darin, dass Männer zwei Drittel und Frauen nur ein Drittel der Zeit gegen Entgelt arbeiten. Unter den vielen interessanten Veränderungen in der Vergangenheit fällt auf: Es wurde im Verlauf der letzten Dekade weniger gearbeitet, um 1,5 Stunden pro Woche. Das setzt sich zusammen aus dem Anstieg der Erwerbsarbeit um zwei Stunden und dem Rückgang der informellen Arbeit um 3,5 Stunden.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Klar ist: Der "Übergang in die Postwachstumsgesellschaft" wird (auch) die Schnittstelle zwischen formeller Arbeit und informeller Arbeit verschieben. Das "bedingungslose Grundeinkommen" könnte ein game changer sein - dem widmet das Buch ein ausführliches Kapitel. Für den Glauben an einen Erfolg setzt das aber ein Verständnis von Arbeit voraus, welches von dem, welches der neoklassischen Mikrotheorie zugrunde liegt, weit entfernt ist. Dafür baut das Buch Brücken.

Hans-Jochen Luhmann ist Ökonom und Emeritus am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie.

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