Occupy-Proteste vor Londoner Kathedrale:Da sind so sture Schäflein

Das Camp wuchs von Tag zu Tag, aus immer mehr Zelten entstand am Ende ein kleines Städtchen mitten in der Londoner City: Vor der St.-Paul's-Kathedrale protestiert die Occupy-Bewegung gegen die Macht der Finanzmärkte. Zuerst schien es, als wollte die Kirche die Demonstranten loswerden, nun äußert sogar der Bischof Verständnis für die Aktionen - und stellt sich gegen den Räumungsbeschluss der Stadt.

Christian Zaschke, London

Bis Mittwoch sah es aus, als würde der Londoner Teil der weltweiten "Occupy"-Bewegung vor allem die englische Kirche erschüttern, während die Banker in der City die Proteste schlicht ignorierten. Seit gut drei Wochen steht die kleine Stadt aus rund 200 Zelten neben der St.-Paul's-Kathedrale und unweit der Londoner Börse. Während die Börsianer unbeeindruckt blieben, geriet in St. Paul's einiges durcheinander. So sehr, dass an diesem Dienstag Richard Chartres, der Bischof von London, in die Offensive gegangen ist: Er erklärte, dass die Kirche keinerlei rechtliche Mittel gegen die Protestierenden einlegen werde und also auch eine Räumung des Platzes nicht unterstütze. Stattdessen werde die Kathedrale ihre Türen für Diskussionen öffnen. "Die Alarmglocken klingen auf der ganzen Welt", sagte Chartres, "St. Paul's hat diesen Ruf nun gehört."

Protesters hold up a banner at the Occupy London Stock Exchange protest camp on the steps of St Paul's Cathedral, in the City of London

Die Stadt will das Protestcamp vor der Londoner St- Pauls's Kathedrale auflösen. DIe Kirche zeigt jedoch - nach anfänglicher Skepsis - inzwischen Verständnis für die Demonstranten.

(Foto: REUTERS)

Das Timing von Chartres Äußerungen ist bemerkenswert. Er sprach am Dienstag nur wenige Stunden bevor die City of London Corporation, die für die Innenstadt zuständige Verwaltungsbehörde, den Protestierenden mitteilte, sie hätten 48 Stunden Zeit, um das Gelände zu verlassen. Danach werde zwangsgeräumt. Die Kirche will damit nichts mehr zu tun haben. Sie könnte unter Umständen sogar dafür sorgen, dass das Camp trotz des Räumungsbescheids der Stadt bestehen bleibt. Das Gelände um Kathedrale und Börse gehört zum Teil der Stadt, ist zum Teil in Privatbesitz und zum Teil Eigentum der Kirche. Möglich ist also, dass die Protestierenden ihr Camp am Donnerstag nur ein bisschen verschieben müssen.

Der Schritt von Bischof Chartres ist auch deshalb bemerkenswert, weil es hinter den Kulissen von St. Paul's zuletzt drunter und drüber ging. Die Geistlichen fanden keine klare Position zu den Protesten, sie standen zwischen Staat, Finanzmarkt und der Occupy-Bewegung, die sich vor ihren Stufen niedergelassen hatte. Zunächst hatte Domherr Giles Fraser die Protestierenden willkommen geheißen und die Polizei gebeten, das Gelände zu verlassen. Was er denn mache, wenn der Protest wirklich wie angekündigt bis Weihnachten weitergehe, wurde er damals gefragt. Fraser lächelte und sagte gut gelaunt: "Wir schauen jetzt erst einmal von Tag zu Tag."

Das Camp wuchs dann von Tag zu Tag, rasch gab es Toiletten, ein Küchen-Zelt, ein Medienzentrum. Das Camp wurde zum Städtchen in der City, was bedeutete, dass es nicht so schnell wieder verschwinden würde. Domherr Fraser hatte damit kein Problem, aber es rumorte in der Kirche. Vor knapp zwei Wochen schloss die St.-Paul's-Kathedrale erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg ihre Türen, weil angeblich der Betrieb nicht aufrechtzuerhalten sei und sowohl Sicherheit als auch Gesundheit der Kirchenbesucher nicht zu garantieren seien. Die Schließung wirkte allerdings eher hilflos, zumal der Betrieb in den Tagen zuvor problemlos funktioniert hatte. 20 000 Pfund (rund 23.000 Euro) an Spenden und Einnahmen aus dem Shop verlor St. Paul's täglich. Also öffnete die Kathedrale nach wenigen Tagen wieder.

Auflösungserscheinungen in der Anglikanischen Kirche

In vielen Internetforen zeigten sich Christen ratlos, weil offensichtlich war, dass es Bestrebungen in der Anglikanischen Kirche gab, die Protestierenden loszuwerden, um wieder zum Alltag überzugehen. Als St. Paul's prüfte, wie man juristisch gegen das Camp vorgehen könnte, trat der eminent populäre Domherr Giles Fraser zurück. Er könne es nicht verantworten, dass die Protestierenden unter Umständen mit der Zustimmung der Kirche von der Polizei vertrieben würden. Kaplan Fraser Dyer trat aus den gleichen Gründen zurück. Dekan Graeme Knowles, der dafür war, das Lager zu räumen, sah sich heftiger Kritik ausgesetzt. So heftig, dass er am Montag ebenfalls zurücktrat.

Zu diesem Zeitpunkt sah es ein bisschen so aus, als würde sich infolge der Occupy-Proteste die Anglikanische Kirche allmählich selbst auflösen. Alles schien falsch zu laufen - und die Zwangsräumung schien absehbar zu sein. Nun leitet Bischof Richard Chartres St. Paul's kommissarisch, bis ein neuer Dekan gefunden ist. In seiner ersten Amtshandlung hat er, wie es scheint, die Kirche aus ihrer passiven Rolle geführt. Er sagte: "Unsere heutige Entscheidung bedeutet, dass unsere Türen ausdrücklich offenstehen, um sich mit Fragen zu beschäftigen, die nicht nur die Menschen betreffen, die hier campen, sondern Millionen im ganzen Land und in aller Welt."

Chartres will eine Initiative starten, deren Ziel es ist, "Finanzen und Ethik wieder zusammenzuführen". Der Investmentbanker Ken Costa soll der Initiative vorstehen. Der Südafrikaner Costa ist bekennender Christ, er saß im Vorstand der Banken UBS Europe und Lazard. Vertreter aus der Finanzbranche, der Kirche und der Allgemeinheit sollen in den kommenden Wochen diskutieren. Der vormalige Domherr Giles Fraser wird auch wieder mit von der Partie sein: Er soll ständiger Diskussionsteilnehmer sein und dafür sorgen, dass die Protestierenden ausreichend gehört werden.

Auf das Vorgehen der städtischen Verwaltung hat die neue Position der Kirche indes wohl keinen Einfluss. Das wiederum könnte bedeuten, dass nach Ablauf der 48-Stunden-Frist am Donnerstag Gerichtsvollzieher und Polizisten an der Kathedrale anrücken, um den Räumungsbescheid umzusetzen. Freiwillig werden die Protestierenden das Gelände nicht verlassen, das haben sie in diesen Tagen mehrmals verkündet. Fraglich ist also, ob sie sich auf den Teil des Geländes zurückziehen dürfen, das der Kirche gehört - und ob sie das überhaupt wollen. Da die Occupy-Bewegung alle Themen ausführlich und basisdemokratisch diskutiert, muss sie jetzt wohl erst einmal darüber reden, ob sie die plötzliche Umarmung der Kirche erwidern will.

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