Obamas Gesundheitsreform:Widerwillen gegen Brokkoli und den Obrigkeitsstaat

Obamas Gesundheitsreform hat die Amerikaner so tief entzweit wie es seit Jahrzehnten kein innenpolitisches Thema getan hat. Der erbitterte Streit rührt an Ängste, die tief in der amerikanischen Psyche verankert sind: Wie stark darf der Staat in das Leben des einzelnen Bürgers eingreifen?

Reymer Klüver

Jeder Amerikaner hasst Brokkoli. Generationen von Müttern in den USA haben ihrem Nachwuchs den Kohl aufgenötigt. Schließlich ist er so gesund. Und so war die Frage nicht ohne Perfidie gewählt, die Antonin Scalia, einer der fünf Konservativen unter den neun Richtern am Supreme Court, in dieser Woche während der Anhörung über die Gesundheitsreform aufwarf: Könnte der Staat seine Bürger zwingen, Brokkoli zu kaufen?

Protest gegen Obamas Gesundheitsreform in den USA

Als "unmoralisch" empfinden viele US-Amerikaner den Zwang, sich eine private Krankenversicherung zulegen zu müssen.

(Foto: AFP)

Verhandelt wird jene Reform von Präsident Barack Obama, die einen krassen sozialen Missstand in den USA zumindest teilweise beheben soll. Es geht um die Pflicht zur Krankenversicherung für alle Amerikaner. Etwa 50 Millionen Amerikaner sind bisher unversichert, für etwa 30 Millionen von ihnen würde sich das bald ändern. Die Reform aber hat das Land so tief entzweit wie seit Jahrzehnten kein innenpolitischer Streit mehr.

Nach Obamas Vorstellung muss künftig jeder Amerikaner eine private Krankenversicherung kaufen - oder ein Strafgeld zahlen. Was, fragte Richter Scalia also, würde sich der Staat danach noch erlauben? Könnte er nicht genauso gut die Bürger zwingen, Brokkoli zu kaufen? Ist am Ende nicht die Freiheit eines jeden Amerikaners bedroht, wenn das Gericht die Versicherung zur Pflicht erklärt? Der erbitterte Streit über die Gesundheitsreform rührt an die Tiefenschichten der amerikanischen Psyche, an Ängste, die im nationalen Genom codiert sind.

Die USA wurden vor gut zwei Jahrhunderten gegründet, weil es die Siedler satthatten, sich von einer fernen Regierung jenseits des Ozeans gängeln zu lassen. Hier liegt er begründet, der Widerwille gegen jede Form von zentralstaatlicher Obrigkeit. Wie ein roter Faden zieht er sich seitdem durch die Geschichte.

Das London der Kolonialzeit wurde später durch Washington ersetzt - der Leviathan war einfach nur umgezogen. Die Südstaaten haben ihre Sezession ideologisch auch damit gerechtfertigt, dass sie sich nur durch Abspaltung dem Diktat einer fremd gewordenen Zentralmacht entziehen könnten (die ihnen die Sklavenhaltung verbieten wollte).

Feindbild "Feds"

Noch heute sind es, vor allem im ländlichen Amerika, die Feds, die Repräsentanten der Bundesbehörden, die als Eindringlinge empfunden werden. Sei es in Form der Steuerbehörde, die auch noch für den Bund das Geld eintreibt (obwohl man doch schon Abgaben für die Kommune und den Bundesstaat zahlen muss). Oder sei es durch FBI-Agenten, die sich in Dinge einmischen, die man am besten untereinander regeln sollte. Sarah Palin, die populistische Heldin der Rechten, spielt virtuos mit den Ängsten konservativer Amerikaner vor einem Diktat ferner Bürokraten. Auch Obama hat mit dieser Haltung kokettiert, als er vor vier Jahren versprach, den Wandel nach Washington zu bringen.

Obrigkeitsfeindlicher Reflex

Dieser obrigkeitsfeindliche Reflex funktioniert bei den meisten Amerikanern. Nur so lässt sich die Empörung verstehen, die Obamas wohlmeinendes Gesetz auslösen konnte: Die Gesundheitsreform wurde gerade von konservativen Bürgern als maßloser Eingriff des Staates verstanden, als Gängelung, als Einschränkung der Freiheit. Bis heute hat sich die Empörung kaum gelegt - Befürworter und Gegner halten sich in Umfragen die Waage.

Nun werden in den USA dem Staat durchaus Aufgaben zugebilligt, die dem europäischen Sozialstaats-Verständnis nahekommen. Es gibt eine Rentenversicherung. Es gibt Arbeitslosengeld und staatliche Krankenversicherungen für Alte und Arme. Als Präsident Roosevelt 1935 die Rentenversicherung durchsetzte, ähnelte der Konflikt der heutigen Debatte um die Gesundheitsreform. Auch Roosevelts Reform landete sehr schnell vor dem Supreme Court.

Damals urteilten die Richter, dass es einer Regelung auf nationaler Ebene durchaus bedürfe - die Missstände seien zu enorm. Gleichwohl wurde schon vor mehr als 70 Jahren derselbe Streit wie heute ausgetragen: Darf der Staat das? Darf er seinen Bürgern eine Versicherung aufnötigen, um einen Missstand von nationaler Dimension zu beseitigen?

Unter dem Eindruck von Depression und Massenarbeitslosigkeit fanden die Richter seinerzeit: "Wenn öffentliche Missstände aus dem Unglück oder den Bedürfnissen Einzelner entstehen, kann der Gesetzgeber das Übel bei seinen Wurzeln packen." Sie ließen die Rentenreform passieren.

Das übergeordnete Übel

Mit der gleichen Logik argumentiert heute Obama: Der Schaden aus dem Versicherungsnotstand sei für das Land enorm - die Unversicherten werden ja auch ohne Versicherung in der Notaufnahme behandelt. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die Logik vom übergeordneten Übel würde heute keiner der fünf konservativen Richter mehr anerkennen.

In den vergangenen Jahrzehnten ist das Pendel in den USA weit nach rechts ausgeschlagen. Die Tea Party und ihre antistaatlichen Parolen sind nur schrillster Ausdruck dieses gesellschaftspolitischen Wandels. Solidarität wird von Amerikas Rechten nur gutgeheißen, wenn sie per Nachbarschaftshilfe oder auf individueller Basis geübt wird. Das Sozialstaatsprinzip, das Roosevelt durchsetzte, ist dieser Generation Konservativer fremd. Es wird sogar als Hasswort benutzt, weil es nach staatlichem Dirigismus klingt. Und so darf es nicht verwundern, wenn der Supreme Court mit seiner konservativen Mehrheit Obamas Gesundheitsreform tatsächlich zu Fall brächte.

Was aber wären die Konsequenzen? Für Millionen chronisch Kranker ohne Versicherung - Diabetiker, Herzleidende, Krebskranke - würde der Traum zerstört, sich endlich eine Behandlung leisten zu können. Abertausende akut Kranker müssten weiter Tag für Tag in Krankenhäusern und Apotheken um Behandlung und Medizin betteln - ein unwürdiger Zustand. Politisch wäre der Präsident ohne Zweifel schwerer getroffen, nur Monate vor der Wahl. Sein wichtigstes Reformwerk - verfassungswidrig. Wenig hätte er vorzuweisen. Obama könnte sich lediglich zum Opfer unbelehrbar parteiischer Richter stilisieren.

Diese Version wäre so falsch nicht. Denn die Richter hätten innerhalb eines guten Jahrzehnts zum dritten Mal eine Entscheidung gefällt, die das Gericht nicht als Schiedshof Amerikas ausweist, sondern als Vollstrecker einer ideologischen Wende. Im Jahr 2000 entschied die konservative Mehrheit des Gerichts die denkbar knappe Stimmenauszählung der Präsidentschaftswahl zugunsten des Republikaners George W. Bush. Vor zwei Jahren öffnete es dem Einfluss des Geldes bei Wahlen Tür und Tor: Millionäre und Milliardäre können seither ohne Begrenzung Wahlkämpfe finanzieren, also Wahlen faktisch kaufen. Nun steht die größte sozialpolitische Reform seit einem halben Jahrhundert vor dem Fall.

An einen neuen Anlauf zur Reform des Gesundheitswesens wäre angesichts der politischen Polarisierung auf Jahrzehnte nicht zu denken. Und so wäre ein Scheitern der Reform vor dem Supreme Court nur ein neuerlicher Ausdruck der Selbstlähmung des Landes und seines politischen Systems.

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