NSU-Prozess:Eine schrecklich normale Entwicklung

Auf den Tag genau vor fünf Jahren hat der NSU-Prozess begonnen. Die Kosten belaufen sich auf 60 Millionen Euro, die Beteiligten verlieren sich in juristischem Kleinklein. Die enorme Bedeutung dieses Verfahrens werden erst nachkommende Generationen vollends erfassen.

Kommentar von Annette Ramelsberger

Am 6. Mai 2013 begann in München der NSU-Prozess, das größte Gerichtsverfahren seit der deutschen Wende. Der Prozess sollte ein mögliches Staatsversagen und die persönliche Schuld der fünf Angeklagten aufklären, sollte in die Abgründe der Gesellschaft leuchten. Er sollte auch so etwas wie eine Wiedergutmachung werden für die Angehörigen der zehn Todesopfer, die der rechtsradikale NSU erschossen hatte - ihre Familien waren jahrelang wie Kriminelle verdächtigt worden. Der Prozess, der so groß begann, ist nun, nach fünf Jahren, stecken geblieben in genervtem Stöhnen, abwehrendem Achselzucken und dem immerwährenden Jammern: Was das kostet!

Ja, der NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München hat bisher 60 Millionen Euro verschlungen, jeden Tag rund 150 000 Euro - für die Sicherheit des Gerichts, für die Anreise der Staatsanwälte, die Übernachtungskosten der Verteidiger, die Ausstattung des Gerichtssaals mit moderner Technik. Doch diese 60 Millionen Euro sind nicht das Problem.

Diese Kosten würden ohne Murren hingenommen, wenn es spürbar voranginge. Doch die Beteiligten verlieren sich in juristischem Kleinklein, sie ächzen unter sinnlosen Befangenheitsanträgen und endlosen Unterbrechungen. Sie werden zermürbt von der Maschinerie eines Großprozesses, der zum Selbstzweck geworden zu sein scheint, bei dem es nur noch darum geht, ihn irgendwie zu Ende zu bringen.

Und dennoch: Dieser Prozess wird sich einreihen in die großen historischen Verfahren, welche die Geschichte der Bundesrepublik wie Meilensteine bestimmt haben. Noch vor ihrer Gründung begannen die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, in denen die Alliierten versuchten, die bekanntesten Täter des Nazi-Regimes zur Verantwortung zu ziehen. Der Chefankläger damals versprach sich davon die "Reinigung der moralischen Atmosphäre" in Deutschland - denn die Verbrechen der Nazis wurden flächendeckend verdrängt. Die Auschwitzprozesse in Frankfurt in den 60er-Jahren machten dann deutlich, welch menschenverachtendes Unrecht in den Vernichtungslagern begangen wurde. Sie gaben den Impuls zum Aufstand der Jungen, die ihren Eltern das Schweigen über ihre Verstrickung im Nationalsozialismus nicht mehr durchgehen ließen. Der Kampf gegen die verkrustete Ordnung führte zur Revolte der 68er - und ihr Exzess, die Verbrechen der Roten-Armee- Fraktion (RAF), zu den nächsten Großprozessen: denen in Stuttgart-Stammheim. Die RAF trug den Kampf in den Gerichtssaal, Angeklagte traten in den Hungerstreik, Verteidiger beschimpften das Gericht. Die RAF-Prozesse wurden zum Sinnbild der bleiernen Siebzigerjahre.

Trotz aller berechtigter Kritik: Das Verfahren ist ein Meilenstein in der Geschichte der Republik

Die Bedeutung solch historischer Prozesse wird meist erst im Nachhinein erkannt: ihre Rolle für die Erkenntnis von Recht und Unrecht, ihr Anstoß für die Reform von Gesetzen, ihre nachhaltige Wirkung auf die Gesellschaft. So ist es auch beim NSU-Prozess. Diese Bedeutung geht derzeit manchmal unter in der allgemeinen Kritik. Ja: Dieser Prozess ist zum mahnenden Beispiel dafür geworden, dass das Strafprozessrecht dringend geändert werden muss - einige Verteidiger nutzen ihre Rechte als Blockadeinstrument; ihnen ist nicht mehr die Wahrheitsfindung wichtig, sie arbeiten nahe an der Sabotage.

All diese Kritik am Prozess ist richtig. Doch es wird dabei übersehen, was er in den vergangenen fünf Jahren geleistet hat: Er hat den Blick der Gesellschaft dahin gerichtet, wo es wehtut; dorthin, wo die Mehrheit jahrelang nicht hinschauen wollte. Er zeigt schmerzhaft, dass es vor allem in den neuen Ländern Mainstream geworden ist, rechts zu sein; dass es in manchen Orten schrecklich normal ist, dass sich jeder bedroht fühlt, der etwas anders aussieht als der Durchschnittsdeutsche. Am erschreckendsten aber ist die Erkenntnis, dass es auch nach fünf Jahren NSU-Prozess Leute gibt, die die gezielte Ermordung von zehn Menschen für einen Kollateralschaden halten im Kampf gegen die angebliche Überfremdung Deutschlands.

Der Prozess hat gezeigt, dass rechtes Gedankengut in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Zu lange hat man den Rechtsextremismus abgetan als Randproblem im Osten, als temporäre Erscheinung von Enttäuschten nach der Wende - als etwas, das sich schon auswachsen werde, wenn die Wirtschaft anzieht und die Leute mehr Geld haben. Nun gibt es Arbeit, und den meisten Leuten geht es gut. Dennoch marschiert in Sachsen der Mob von Pegida und zieht die rechtspopulistische AfD in die Parlamente ein. Selbst in Bayern mit seiner konservativen CSU steht die AfD bei zwölf Prozent.

13 Jahre lang, zwischen 1998 und 2011, haben Staat und Gesellschaft die Augen verschlossen vor der Dimension des NSU. Die Bedeutung des Prozesses gegen Beate Zschäpe und ihre Helfer wird sich vor allem daran messen, ob die Gesellschaft aus ihm lernt: dass sie Haltung zeigen muss gegen alle Demokratiefeinde. Denn deren Macht schwindet nicht, wenn man wegschaut. Sie wächst.

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