NSU-Prozess:Ein gerechtes Urteil und Säcke voller Fragen

Das NSU-Verfahren ist beendet und die Schuld der Angeklagten geklärt. Aber es braucht nicht nur Strafverfahren. Nötig ist auch ein neues Denken - das anerkennt, dass Islam und Muslime zu Deutschland gehören.

Kommentar von Heribert Prantl

Dieser Satz fasst alles zusammen. Er ist die konzentrierte Erkenntnis von 437 Verhandlungstagen und 600 Zeugenaussagen. Er steht aber nicht im Tenor des NSU-Urteils, er stammt nicht vom Richter Götzl, sondern vom Dichter Brecht; der Satz ist schon fünfzig Jahr alt; aber in diesem NSU-Prozess wurde er bewiesen. Er lautet: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch."

Aus dem Schoß, aus dem die Verbrechen des NS-Staates gekrochen sind, krochen 55 Jahre nach dessen Ende neuer Hass und neuer Mord. Das ist die Erkenntnis dieses Verfahrens. Die Täter waren keine Einzeltäter, sie waren Teil eines braunen Netzwerks, sie gehörten zu einem giftigen Milieu, in dem sie sich aufgehoben fühlen konnten. Bestraft wurden aber letztendlich nur eine einzelne Täterin und ein paar Gehilfen. Zwei der Mittäter haben sich umgebracht; das braune Netzwerk aber - es war und ist nicht angeklagt.

Im Verlauf des Prozesses hat sich gezeigt, dass es dieses Netzwerk gab und gibt. Das ist der Mehrwert des Verfahrens. Wie groß ist das Netzwerk, wer gehört dazu? Das umfassend zu klären, hat das Gericht nicht als seine Aufgabe gesehen.

Das Urteil ist richtig und leidlich gerecht, aber nicht ausreichend

Die Nebenkläger, die im Prozess die NSU-Opfer vertreten haben, hätten sich das gewünscht - viele Prozessbeobachter auch. Das ist verständlich, aber unrealistisch. Ein Gericht ist ein Gericht, keine Wahrheitskommission für Zeitgeschichte. Wenn man das Gericht mit einem Zuviel an Erwartungen belädt, führt das zur Enttäuschung über den Prozess und zur Unzufriedenheit mit dem Rechtswesen; das hat dieser Prozess nicht verdient. Er ist souverän-akribisch geführt und mit einem leidlich gerechten Urteil beendet worden, das bei den Gehilfen eher milde ausfiel. Die Beschäftigung mit dem Rechtsextremismus in Deutschland kann und darf damit nicht zu Ende sein.

Ist das Urteil ein Paukenschlag? Die Strafe für Zschäpe ist die schärfste, die möglich war: lebenslange Haft plus Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Das ist angemessen; auf die Anordnung der Sicherungsverwahrung konnte das Gericht verzichten; Zschäpe wird auf Jahrzehnte hinaus nicht auf Bewährung entlassen werden können.

Einige werden das Urteil mutig nennen, weil Zschäpe bei den Morden nicht am Tatort war und trotzdem als Mittäterin verurteilt wurde. Ein Paukenschlag ist das trotzdem nicht. Wer glaubt, dass jemand, der nicht am Tatort war, nicht wegen Mittäterschaft verurteilt werden kann, ist naiv. Zschäpe hatte Organisationsmacht, sie war mit der Beschaffung von Waffen, Tatfahrzeugen und falschen Papieren befasst und Verwalterin der Beute der Raubüberfälle. Wenn das nicht für Mittäterschaft genügt!

Dieser Verfassungsschutz hat die Neonazis vor Ermittlungen der Polizei gewarnt

Die NSU-Morde hätten verhindert werden können, wenn der Verfassungsschutz das nicht verhindert hätte. Der Verfassungsschutz hat es ermöglicht, dass die Neonazis im Untergrund bleiben konnten. Er hat sie vor Ermittlungen der Polizei gewarnt. Er hat verdunkelt, verschleiert, Akten vernichtet. Gäbe es ein Strafrecht für Behörden - dieser Verfassungsschutz verdiente die Höchststrafe: seine Auflösung. Das wäre ein Paukenschlag: "Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil. 1. Der Verfassungsschutz wird aufgelöst. 2. Es wird seine Neuorganisation bis zum 31. 12. 2019 angeordnet." Aber so etwas anzuordnen, lag nicht in der Kompetenz des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts. Es wäre dies die Pflicht der Bundes- und der Landesregierungen. Diese haben, im Gegensatz zum Gericht, ihre Aufgaben nicht erfüllt. Das Geheimdienst- und Staatsschutzwesen braucht eine Fundamentalreform. Es gibt zu viel Neben- und Gegeneinander der vielen Behörden.

Der Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses des Landtags Thüringen stellte fest: Die Behörden haben die Ergreifung der Verbrecher bewusst fahrlässig oder bedingt vorsätzlich verhindert. Es gebe "den Verdacht gezielter Sabotage". Es ist dies ein Verdacht, der einen schier verrückt werden lässt. Strafrechtliche Konsequenzen hatte dieser Verdacht noch nicht.

Mit dem NSU-Urteil endet ein Verfahren, das bei der Polizei mit einem Unwort begann. Es hieß da "Döner-Morde". Das war die vermeintlich griffige Kurzbezeichnung für die Verbrechen. Es ist ein Wort, in dem sich Geringschätzung spiegelt, weil es davon ausgeht, dass Türken von Türken umgebracht werden. In diesem Wort wird alltäglicher Rassismus greifbar. Der NSU-Prozess hat da hoffentlich Sensibilisierung bewirkt. Wörter sind Bewusstseinsindikatoren. Das Bewusstsein, dass "die nicht zu uns gehören", ist virulent - auch in der Politik, in Ministerien. Um Rechtsextremismus zu bekämpfen, braucht man daher nicht nur neue Verbote, wie sie soeben der Bundesinnenminister gegen die "Osmanen Germania" verhängt hat. Sondern man braucht auch ein neues Denken - eines, das anerkennt, dass die Muslime zu Deutschland gehören. Mit diesem Denken sollte der Bundesinnenminister anfangen. Das wäre ein schöner Erfolg des NSU-Urteils.

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