NSU-Prozess in München:Carsten S. entlastet Beate Zschäpe

NSU Prozess

Carsten S. (Mitte) hat die Angeklagte Beate Zschäpe (links) überraschend entlastet

(Foto: dpa)

Möglicherweise hat der NSU bereits im Jahr 1999 versucht, einen Sprengstoffanschlag in Nürnberg zu verüben: Das geht aus einer Aussage des Angeklagten Carsten S. hervor, der unter Tränen vor dem Oberlandesgericht auspackt. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe entlastet er allerdings überraschend.

Aus dem Gericht berichtet Annette Ramelsberger

Möglicherweise hat der NSU bereits im Jahr 1999 versucht, einen Sprengstoffanschlag in Nürnberg zu verüben. Das geht aus einer Aussage des Angeklagten Carsten S. hervor, der am Dienstag vor dem Oberlandesgericht München unter Tränen aussagte - auch über Dinge, die er noch vergangene Woche für sich behalten hatte.

Carsten S. berichtete, er habe Ende 1999 oder Anfang 2000 eine Waffe an Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos übergeben, mit der diese später neun Menschen töteten. Bei dieser Übergabe in einem Cafe in der Galeria Kaufhof in Chemnitz hätten sie angedeutet, dass sie Gewalttaten planen. Sie hätten ihm gesagt, dass sie "eine Taschenlampe in einen Laden in Nürnberg gestellt" hätten. Er habe nicht gewusst, was sie meinten. Am Abend habe er nachgedacht und befürchtet, dass sie womöglich Sprengstoff meinten.

Als Beate Zschäpe zu der Runde gestoßen sei, hätten die beiden Männer aber sofort gesagt: "Psst, damit sie es nicht mitbekommt." Mit dieser Aussage hat Carsten S. auf eine möglicherweise zusätzliche Straftat des NSU hingewiesen, aber die Hauptangeklagte Zschäpe überraschend entlastet. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass sie in alle gewaltsamen Aktivitäten eingebunden war. Zschäpe selbst will sich nicht zu den Vorwürfen äußern.

Carsten S. belastete dagegen am Dienstag erneut den früheren NPD-Funktionär Ralf Wohlleben, der ihn mit der Waffenlieferung an den NSU beauftragt haben soll, schwer. Wohlleben habe ihm lachend erzählt, die hätten einen Menschen angeschossen. Er selbst habe damals nur gedacht: Hoffentlich nicht mit meiner Waffe.

Der Mitangeklagte sei auch - wie er selbst - bei einem Überfall auf zwei junge Männer in Jena dabei gewesen, berichtete Carsten S. nun. Wohlleben habe ihm gesagt, er sei dem einen der beiden ins Gesicht gesprungen. Das könnte weitere Ermittlungen nach sich ziehen.

Carsten S. ist wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Der 33-Jährige, der sich vor Jahren von der rechten Szene gelöst hatte, um seine Homosexualität offen leben zu können, sagte bereits an zwei Prozesstagen in der vergangenen Woche umfangreich aus. Auf Fragen des Richters antwortete er damals aber immer wieder: "Ich erinnere mich nicht." Seine Vernehmung war schließlich auf Wunsch seiner Verteidiger unterbrochen worden, weil der für ihn zuständige psychiatrische Gutachter Norbert Leygraf nicht anwesend war. An diesem Dienstag ist der Sachverständige wieder im Gericht.

Von einem versuchten Anschlag in Nürnberg ist bislang nichts bekannt, dort soll der NSU aber drei der zehn Morde begangen haben. Zudem begann in Nürnberg laut Anklage das Töten im September 2000. Ein paar Monate später stellten Mundlos und Böhnhardt eine Christstollendose mit Sprengstoff in einem Lebensmittelladen in Köln ab, sie explodierte und verletzte eine junge Frau lebensgefährlich. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der NSU schon vorher mit solchen Sprengvorrichtungen experimentierte.

Carsten S. hat allerdings laut eigener Aussage niemanden von seinen Vermutungen erzählt - auch bei früheren Vernehmungen nicht. Erst jetzt habe er sich entschlossen aufzuräumen. "Das habe ich niemandem gesagt, das hab ich ganz schnell wieder weggetan", sagte er. Der Richter fragte nochmal genauer nach, was es mit der Taschenlampe auf sich gehabt habe. Der Angeklagte sagte: "Es gab vermutlich früher einen versuchten Anschlag, den ich aber weggeschoben habe."

Noch weitere bisher unbekannte Details berichtete Carsten S.: dass Böhnhardt zu ihm sagte, sie seien immer bewaffnet, sie hätten sogar eine Maschinenpistole. Und wie Böhnhardt seinen Finger auf das Display seines Handys gedrückt habe und fragte: "Was meinst du, was der Fingerabdruck wert ist?" Dass die drei eigentlich eine halbautomatische Waffe haben wollten und keine Pistole. Und dass Wohlleben lachend die Ceska zusammengebaut und auf ihn gerichtet habe. "Ich hab einen Schreck bekommen", sagte Carsten S., "damit zielt man nicht auf Menschen."

Bundesanwaltschaft überprüfte 500 Personen

Am Morgen hatte die Bundesanwaltschaft im Gericht überraschend erklärt, im Zusammenhang mit den Verbrechen des NSU insgesamt etwa 500 Menschen überprüft zu haben, die dem Umfeld der Terrorzelle zugehören könnten. Es gebe "etwa 500 Personen", die im Laufe der Ermittlungen "abgeklärt" worden seien, sagte Oberstaatsanwältin Anette Greger.

Die Bundesanwaltschaft hatte den Prozessbeteiligten zunächst eine Liste von 129 Personen aus dem Umfeld vorgelegt. Erst auf Nachfrage erklärten die Vertreter der Anklagebehörde am Dienstag, dass es inzwischen eine aktualisierte Liste gebe. Es sei aber nur die ältere 129er-Liste vorgelegt worden, weil der Senat lediglich diese angefordert habe, sagte Greger.

Es handele sich um sogenannte Spurenakten, die für das Verfahren keine Bedeutung hätten, erklärte Bundesanwalt Herbert Diemer. Die Akten könnten jedoch bei der Bundesanwaltschaft eingesehen werden. "Wir haben nichts zu verheimlichen." Nebenklagevertreter reagierten überrascht und verärgert. Er verstehe nicht, "warum wir zuletzt eine Liste mit 129 Personen bekommen, wenn es eine aktuelle mit 500 gibt", sagte etwa Nebenklage-Anwalt Sebastian Scharmer.

(Mit Material von der dpa)

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: