NSU-Prozess:"Hypothesen und Überlegungen, die nicht für andere bestimmt sind"

NSU-Prozess - Fortsetzung

Gutachter Henning Saß im Januar im Münchner Oberlandesgericht

(Foto: dpa)

Der psychiatrische Experte im NSU-Prozess verweigert Zschäpes Verteidigern Einblick in seine Notizen. Die hoffen zu erfahren, warum das Gutachten so unvorteilhaft ausgefallen ist.

Aus dem Gericht von Wiebke Ramm

Psychiater Henning Saß möchte seine Notizen für sich behalten. Was genau er an jedem einzelnen Hauptverhandlungstag im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München bei Beate Zschäpe beobachtet, was er dabei gedacht, vermutet oder auch wieder verworfen hat, das will er vor Gericht nicht kundtun. "Ich möchte eigentlich nicht die Gesamtheit meiner Notizen hier referieren", sagt Saß. "Es sind Arbeitsnotizen. Sie enthalten Gedanken, Hypothesen und Überlegungen, die nicht für andere bestimmt sind."

Die langjährigen Verteidiger von Zschäpe - Anja Sturm, Wolfgang Stahl und Wolfgang Heer - sehen das sehr anders. Sie wollen nachvollziehen, anhand welcher konkreten Verhaltensweisen ihrer Mandantin der Psychiater zu seinem für Zschäpe verhängnisvollen Ergebnis gekommen ist. Die Anwälte wollen wissen, was genau der Psychiater bei Zschäpe beobachtet und wie er es bewertet hat.

Freiwillig aber wird Saß seine handgeschriebenen Notizen nicht öffentlich machen, daran ließ er an diesem 343. Verhandlungstag keinen Zweifel. "Ich bin nicht gewillt, alles, was ich im Verlauf der fast vier Jahre mal erwogen, mal gedacht, mal ins Unreine aufgeschrieben habe, hier vorzutragen", sagte er. Nur wenn das Gericht ihn auffordere, seine Aufzeichnungen mitzubringen, werde er dies tun.

Vorsichtshalber hatte der Gutachter die nach eigenen Angaben 773 Seiten gar nicht erst mitgebracht. "Wo befinden sich die Notizen?", fragt Anja Sturm ihn. "In meinem Arbeitszimmer", sagt Saß. Das befindet sich in Aachen, gut 650 Kilometer von München entfernt.

Mehr als Scheingefechte

Manch ein Zuhörer im NSU-Prozess mokiert sich über "Scheingefechte", die die Verteidigung führe. Viel Lärm um nichts, lautet ein Vorwurf. Tatsächlich aber geht es für Zschäpe um eine ganze Menge.

Denn das, was Saß über Zschäpe sagt, dürfte erheblichen Einfluss darauf haben, zu welcher Einschätzung letztlich auch das Gericht kommen wird: Sind Zschäpes eigene Angaben glaubhaft oder nicht? Ist sie für die überwiegend rassistisch motivierten Morde, die Sprengstoffanschläge und Raubüberfälle genauso verantwortlich wie Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt? Oder befand sie sich, wie sie behauptet, quasi in den Fängen der beiden Männer, aus denen sie sich angeblich nicht befreien konnte?

Dem Richter genügen die Ausführungen des Experten

Saß hatte in seinem Gutachten unter anderem ausgeführt, dass Zschäpe sich im Umgang mit anderen Menschen durchzusetzen weiß, dass sie ihre Interessen konsequent, selbstbewusst und zielstrebig vertritt und eher dominant statt devot agiert.

Saß schlussfolgerte dies unter anderem aus Zschäpes Verhalten gegenüber Sturm, Stahl und Heer, als sie die drei Anwälte aus dem Verfahren drängen und durch die Verteidiger Mathias Grasel und Hermann Borchert ersetzen lassen wollte. Den monatelangen und bis heute anhaltenden Konflikt mit den Verteidigern nutzte Saß als Blaupause, um Mutmaßungen darüber anzustellen, wie sich Zschäpe in den Jahren im Untergrund gegenüber Mundlos und Böhnhardt verhalten hatte.

Zschäpes eigene Version, dass sie sozusagen unter den Pantoffeln von Mundlos und Böhnhardt stand, ihr rassistisches Morden angeblich weder gewollt habe noch verhindern konnte, überzeugte Saß nicht. Es ist nicht allein ihr Verhalten im Prozess, das Zschäpe seiner Ansicht nach als starke Frau zeigt. Der Psychiater stützt sein Gutachten auch auf die Aussagen von Urlaubsbekanntschaften, Nachbarn, Zschäpes Cousin und Freunden aus der Neonaziszene.

Entscheidung wohl am Mittwoch

Sollte das Gericht es als erwiesen ansehen, dass Zschäpe als Rechtsterroristin mitverantwortlich für sämtliche NSU-Verbrechen ist, dann sieht der Psychiater bei ihr auch einen Hang zu schweren Straftaten vorliegen. Der Angeklagten drohte eine unabsehbare Zeit hinter Gittern.

Mehrere Stunden lang führte Saß an früheren Verhandlungstagen aus, dass und warum er Zschäpe im Falle ihrer Verurteilung für schuldfähig und für weiter gefährlich hält. Dem Gericht und auch der Bundesanwaltschaft scheint dies zu reichen. Sie sehen keine Notwendigkeit, mit Saß seine handschriftlichen Notizen durchzugehen. So macht es der Vorsitzende Richter an diesem Dienstag deutlich. Heer, Stahl und Sturm widersprechen.

Die Entscheidung des Senats wird nun für den Folgetag erwartet. Es bleibt abzuwarten, ob der Psychiater doch noch seine Notizen aus Aachen holen und einen sehr genauen Einblick in seine Vorgehensweise geben muss.

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