Konzentrationslager:Wie das KZ-System wucherte

Konzentrationslager Theresienstadt KZ Scherl / SZ Photo

KZ-Gefangene vor einem Eingang der Kleinen Festung des Konzentrationslagers Theresienstadt. Im Mai 1945 wurden die überlebenden Häftlinge befreit. Die heutige tschechische Gedenkstätte befindet sich auf halbem Weg zwischen Prag und Dresden.

(Foto: Scherl/SZ Photo)

Nikolaus Wachsmanns Buch über die KZ-Gesamtgeschichte zeigt: Wir sind noch lange nicht fertig mit der Aufarbeitung des Nazi-Terrors.

Rezension von Jürgen Zarusky

Die Konzentrationslager sind nur eines der grausigen Fakten, um die das deutsche Gewissen kreisen müsste. "Gerade von ihnen will das Volk nichts mehr hören", schrieb der Buchenwald-Überlebende und Soziologe Eugen Kogon 1946 im Nachwort seines Werks "Der SS-Staat".

Noch die zehnte Auflage dieses Buchs von 1979 galt als aktuelles Standardwerk über das KZ-System, denn nicht nur das Volk, auch die Wissenschaft war lange nicht allzu erpicht darauf gewesen, sich der Problematik zu stellen. Die erste Generation der Lager-Historiker rekrutierte sich aus Überlebenden, die ihre Erfahrungen analytisch aufarbeiten und vermitteln wollten.

Der letzte Vertreter dieser Kohorte war der Tscheche Stanislav Zámecník, der 2002 als fast 80-Jähriger die Monografie "Das war Dachau" vorlegte. Als sein Buch erschien, waren die Lager seit etwa zwei Jahrzehnten zum anerkannten akademischen Forschungsgegenstand geworden. In dem von Wolfgang Benz und Barbara Distel herausgegebenen neunbändigen enzyklopädischen Werk "Der Ort des Terrors" (2005 - 2009) wurde unter Mitwirkung zahlreicher Autoren das inzwischen stark angewachsene Wissen zusammengeführt.

Auch das Washingtoner Holocaust-Museum legte 2009 ein zweibändiges Lagerlexikon vor. Aber eine Gesamtgeschichte der SS-Konzentrationslager aus einem Guss gab es bisher nicht.

Eine neue Perspektivenvielfalt

Der 1971 in München geborene, in Großbritannien ausgebildete und heute an der University of London lehrende Nikolaus Wachsmann hat diese Leerstelle erkannt und sich an die Arbeit gemacht. Das Resultat ist ein Buch, das das bedrückende und schwierige Thema in einer bisher nicht dagewesenen Perspektivenvielfalt erschließt.

Der Autor verliert dabei - auch angesichts des uferlosen Meers von Leid und Elend der Opfer, der Abgründe von Fanatismus, Brutalität und Selbstsucht der Täter sowie der schwer zu begreifenden Schattenzonen dazwischen - nie seine von analytischer Präzision und menschlicher Empathie geprägte Haltung, und der Historiker versteht es, über 700 Textseiten hinweg einen intellektuellen Spannungsbogen aufrechtzuerhalten.

Die Entwicklung des Lagersystems und seine wechselnden Funktionen, die Struktur und Mentalität der Lager-SS, die Haltung der Umgebung zu den KL (Wachsmann verwendet die historische Abkürzung, nicht die härtere Nachkriegsvariante "KZ") sowie die Richtungsentscheidungen Hitlers und Himmlers werden konsequent über alle Stadien hinweg verfolgt. Entscheidend geprägt aber wird die Darstellung durch die zahlreichen, oft leitmotivisch eingewobenen Zeugnisse von Verfolgten.

Nach der Frühphase 1933/34, in der die vielen oft improvisierten Lager der totalen Unterwerfung und Einschüchterung Zehntausender ohnehin besiegter politischer Gegner dienten, blieben zunächst nur einige KL mit wenigen Häftlingen bestehen: Im Oktober 1934 gab es gerade einmal 2400 KL-Gefangene, im August 1944 waren es fast 300-mal so viele, nämlich 714 211.

Das Wachstum verlief exponentiell, mit einem Ausreißer nach oben im Jahr 1938, als infolge des "Kristallnacht"-Pogroms 27 000 jüdische Männer in die Lager gepfercht wurden.

Riesige Unterschiede

Zum 1. April 1945 war der Häftlingsbestand nahezu schlagartig auf 550 000 gesunken, eine Folge des Massensterbens in der Endphase mit den Todesmärschen, Morden an Transportunfähigen und dem Zusammenbruch der ohnehin dürftigen Versorgungsstrukturen.

Etwa 2,3 Millionen Menschen wurden zwischen 1933 und 1945 in die Lager verschleppt, rund 1,7 Millionen starben dort. Ohne die 870 000 Juden, die in Auschwitz direkt bei der Ankunft ermordet wurden, sind es 1,43 Millionen und 830 000 Todesopfer.

Dabei sind die Unterschiede im Einzelnen riesig: In den Vorkriegslagern Esterwegen und Lichtenburg gab es jeweils weniger als 30 Tote, in Auschwitz waren es ohne die unmittelbar bei der Ankunft Ermordeten 230 000, in Mauthausen 90 000, in anderen großen Lagern ebenfalls jeweils mehrere Zehntausend. Wachsmann illustriert die Differenzen mit Schlaglichtern auf die Zustände im KL Dachau an drei Stichtagen 1933, 1939 und 1945 und resümiert: "Drei Tage in Dachau, drei unterschiedliche Welten".

Konzentrationslager: Nikolaus Wachsmann: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Siedler Verlag München 2016. 992 Seiten. 39,99 Euro. E-Book: 32,99 Euro.

Nikolaus Wachsmann: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Siedler Verlag München 2016. 992 Seiten. 39,99 Euro. E-Book: 32,99 Euro.

Dass dieses Lager zur Keimzelle des ganzen Systems wurde, lag an Heinrich Himmler und Theodor Eicke. Himmler eroberte von München aus den Polizeiapparat und erwirkte 1935 bei Hitler die Entscheidung, die Institution der Lager auf Dauer zu stellen.

Längst waren nicht nur politische Opponenten, sondern auch soziale Außenseiter eingewiesen worden. Theodor Eicke, der zweite Kommandant des KL Dachau, hatte dort Strukturen entwickelt, die zur Blaupause wurden, und war zum Inspekteur der KL aufgestiegen, nicht zuletzt wegen seiner Beteiligung an der Ermordung des SA-Führers Ernst Röhm im Sommer 1934.

Wie die meisten Führungsfiguren der Lager-SS war Eicke längst vor 1933 ein aktiver, gewalttätiger Rechtsextremist gewesen. Auch der Nachwuchs wurde in der NS-Ideologie geschult und auf "Härte" getrimmt.

Es "menschelte" unter den Profis der Unmenschlichkeit

Zwischen 1936 und 1939 wurden mehrere "moderne" Lager eingerichtet, die bereits auf bauliche Erweiterung angelegt waren. In den Steinbrüchen von Flossenbürg und Mauthausen mussten Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen Material für NS-Bauten erzeugen.

1940 wurde das KL Auschwitz als Repressionsinstrument gegen den Widerstand im besiegten Polen eingerichtet. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 wollte Himmler es mittels einer großen Zahl sowjetischer Kriegsgefangener, die ihm die Wehrmacht bereitwillig überließ, zu einer Zwangsarbeits-Drehscheibe für die Kolonisierung des Ostens machen.

Die Geschichte der Gaskammern in Auschwitz beginnt mit der Ermordung "sowjetischer Kommissare". Als der Blitzkrieg gegen die UdSSR Ende 1941 scheiterte, kamen keine Kriegsgefangenen mehr, sondern Juden nach Auschwitz. Rund eine Million wurden dort ermordet, die meisten sofort nach der Ankunft.

Abgesehen von Majdanek, wo mehrere Zehntausend Juden getötet wurden, war Auschwitz das einzige KL, das als Vernichtungszentrum der Schoah fungierte; es war zugleich das größte. Wahrscheinlich ist rund ein Viertel der Opfer des Holocaust dem KL-System - den Gaskammern von Auschwitz, anderen zahlenmäßig kleineren Mordaktionen und den für Juden stets besonders unmenschlich gestalteten Haftbedingungen - zuzurechnen.

Hass als Lebenselixier

Die anderen entfallen auf Mordfabriken wie Treblinka und Sobibor sowie Massenerschießungen. Die Konzentrationslager bildeten nur einen Teil des Megakomplexes nationalsozialistischer Verbrechen, allerdings einen bedeutenden, in dem die Stränge aller Unterdrückungs- und Verfolgungsaktionen zusammenliefen. "Keine Institution verkörperte den NS-Terror umfassender als das KL", schreibt Wachsmann.

Ende 1943 begann das System zu wuchern, die KL verschmolzen mit der Kriegswirtschaft. Schon 1942 war im Zuge der Ökonomisierung die Inspektion der Konzentrationslager dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt eingegliedert worden. Riesige Untertagebauten sollten die Rüstungsproduktion vor Bomberangriffen schützen, und bei vielen Produktionsstätten entstanden Außenlager.

Die Gefangenen wurden dadurch auch immer sichtbarer für die Umgebung, deren vorherrschende Reaktion, insbesondere bei Deutschen, eine habituell verinnerlichte Gleichgültigkeit war. Solidarität blieb die Ausnahme, eher riefen "KZler" Ablehnung und Hass hervor. Für die Lager-SS war Hass ein Lebenselixier.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Bei aller zur Schau getragenen Schneidigkeit war sie letztlich aber nicht nur ein brutalisierter, sondern auch ein ziemlich korrupter Haufen. Beute war im KL leicht zu machen, und entgegen dem SS-Mythos wurde Korruption meist nicht streng bestraft. Himmler gab vielen auffällig gewordenen "Kameraden" eine zweite Chance. Es "menschelte" sehr unter den Profis der Unmenschlichkeit.

Die äußerst vielfältige, multinationale Häftlingsgesellschaft wurde durch die rassistischen Hierarchie-Kriterien der SS strukturiert. Die günstigsten Bedingungen hatte dabei die kleine Schicht der Funktionshäftlinge, die sogenannten Kapos, meist Deutsche oder Österreicher. Wachsmann untersucht ihre zwiespältige Rolle eingehend.

Hervorzuheben, dass auch sie Häftlinge waren, die ihre "Privilegien" jederzeit verlieren konnten, ist ihm wichtig. Eine umfassende Solidarität unter den Häftlingen gab es kaum. Die Struktur der KL machte sie zu Rivalen. Gruppensolidarität hingegen spielte eine zentrale Rolle im Kampf um das Überleben.

Der Einzelne sah sich dabei immer wieder vor "unmögliche Alternativen" gestellt. Im Inferno der Endphase lautete die Alternative "Tod oder Freiheit". Wer überlebte, den ließ die Erfahrung des Lagers meist nicht mehr los.

Die Bilanz der Aufarbeitung durch Justiz und Entschädigungspolitik ist unbefriedigend, die historische Verantwortung bleibt. Wir sind noch längst nicht fertig mit der Geschichte des NS-Terrors. Diese Erbschaft ist größer und schwerer, als viele meinen. Auf dem Weg, sie zu begreifen, ist Nikolaus Wachsmanns Buch "KL" ein eminenter Schritt nach vorn.

Jürgen Zarusky ist Historiker am Institut für Zeitgeschichte München - Berlin und Chefredakteur der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte.

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