NS-Verbrechen:Ein Schleppnetz für die letzten Fische

Alles ist eine Frage der Zeit - warum früher so viele Nazi-Täter durch die Maschen schlüpften und gerade jetzt ein Ermittlungsboom herrscht.

Von Christiane Kohl

Es ist nur eine kurze Zeitungsnotiz, doch sie führt zum Kern der Frage, die alle hier zu beschäftigen scheint. Kriminalhauptkommissar Manfred Haag hat sich die Meldung an die Wand vor dem Schreibtisch geheftet, weshalb ihm der Papierschnipsel, der zwischen Familienfotos und Schmuckkalendern hängt, jetzt ständig ins Auge fällt.

Das Todeslager Auschwitz

Das Todeslager Auschwitz.

(Foto: Foto: AP)

"Ältester Deutscher stirbt im Alter von 111 Jahren", liest der Kriminaler aus der Meldung vor. Dann dreht er sich um und grinst: Wenn alle so alt würden wie der Mann aus der Zeitungsnotiz, gäbe es ja wohl noch genug zu tun.

Der Kripobeamte sowie die fünf Richter und Staatsanwälte, die in den benachbarten Büros unter breiten Landkarten und Organisationsplänen sitzen, spüren einer besonderen Klientel von Delinquenten nach, die mittlerweile in die Jahre gekommen ist: Sie jagen deutsche NS-Täter und Kriegsverbrecher.

Die alten Herren in irgendeinem Erdenwinkel zu finden, Beweise gegen sie zu sammeln und sie vor ein deutsches Gericht zu bringen, ist ein Wettlauf mit der Zeit geworden, den die Ermittler schon oft genug verloren haben.

Aber auch die Behörde selbst, die offiziell unter dem langatmigen Namen "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" firmiert, hat im Laufe der Zeit immer neue Beweise vorlegen müssen, um ihre Daseinsberechtigung zu behaupten: 60 Jahre nach Kriegsende stellt sich diese Frage heute mehr denn je, und deshalb scheint sie in dem ehemaligen Frauengefängnis von Ludwigsburg, wo die "Zentrale Stelle" seit vielen Jahrzehnten residiert, auch allgegenwärtig zu sein - freilich anders, als man denken würde.

Moskauer Schätze

"Ich will nicht sagen, dass wir ein lebender Leichnam sind", meint Staatsanwalt Joachim Riedel in munterem Plauderton, doch es gebe wohl wenige Behörden in Deutschland, "die so oft totgesagt wurden wie wir".

Riedel ist stellvertretender Leiter der "Zentralen Stelle", in seinem Amtszimmer sitzt er wie eingemauert zwischen Bücherreihen und Aktenbergen - der 63-Jährige macht keineswegs den Eindruck, als ob er demnächst seinen Schreibtisch räumen wollte. Stattdessen bereitet er gerade seine nächste Recherche-Reise an die Schwarzmeerküste vor.

Es stehen Termine in Odessa und Nikolajew an, auch nach Moskau will der Staatsanwalt reisen: Im Archiv des Geheimdienstes KGB, meint Riedel, "dürften wahre Schätze für uns liegen".

Washington, Prag, Argentinien

Auch im benachbarten Büro von Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, dem Behördenleiter, werden Reisevorbereitungen getroffen: Schrimm fliegt demnächst nach Washington, wo mit dem Holocaust-Museum und den National Archives zwei weitere Fundgruben für deutsche Ermittler existieren.

Seit die Amerikaner Box für Box ihrer nach Kriegsende gesammelten Aktenbestände freigeben, eröffnen sich immer neue Informationsquellen. Später im Jahr will Schrimm auch nach Prag, Argentinien steht ebenfalls auf dem Programm, und wer weiß, wohin der 55-jährige Schwabe noch eilen wird.

"Wir machen eine Art Schleppnetzfahndung nach den letzten Tätern", sagt Kollege Riedel, während sein Blick über die Aktenberge auf seinem Schreibtisch wandert: "Erst wenn alle tot sind, macht die Behörde zu." Das kann noch ein bisschen dauern.

Ein Schleppnetz für die letzten Fische

Kürzlich hat Riedel 16 Namen von Männern ausfindig gemacht, die "ganz konkreter Taten bezichtigt werden", wie er sagt. Ein paar Türen weiter sitzt Thomas Will in seinem Amtszimmer mit einem Italienisch-Lexikon am Computer und eröffnet ein Vorermittlungsverfahren nach dem anderen.

Überlebende Kinder aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau

Überlebende Kinder aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau.

(Foto: Foto: Reuters)

Der Jurist, der vom Amtsgericht Dessau nach Ludwigsburg abgeordnet wurde, kümmert sich um Kriegsverbrechen, die deutsche Soldaten und SS-Männer während der Okkupation Italiens 1944/45 verübten. Er führt zurzeit allein 17 offene Verfahren, und er hat "noch 200 weitere Tatbestände" im Auge - Italien, wo Deutsche während der letzten Kriegsmonate allein etwa 10.000 Zivilisten und mindestens 15.000 Partisanen töteten, ist ein Ermittlungsschwerpunkt in der Zentralen Stelle.

Regelrechter Ermittlungsboom

"Mein Ehrgeiz ist, alle Taten in Italien zu erfassen, und die am besten belegten Fälle auf den juristischen Weg zu bringen", sagt Staatsanwalt Will und fügt leise hinzu: "Wenn wir das jetzt nicht schaffen, wird es wohl keiner mehr machen."

Auch der Kriminalhauptkommissar Haag pflegt zurzeit eine rege Korrespondenz mit den italienischen Carabinieri, überdies führt er Untersuchungen in der Nähe von Potsdam, in Göttingen und andernorts. Und so ist, 60 Jahre nach Kriegsende, ein regelrechter Ermittlungsboom in Ludwigsburg ausgebrochen.

"Man kann fragen, warum das erst jetzt geschieht", philosophiert Staatsanwalt Riedel in seiner Aktenburg. Und der Behördenleiter Schrimm räumt unumwunden ein, dass "in der Vergangenheit sicher einiges versäumt wurde".

Auch dies hat mit der Zeit zu tun, die wohl erst vergehen musste, bis der Zeitgeist reifte für eine offensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: Die "Zentrale Stelle" ist, wie alle deutschen Justizbehörden, nur ein Spiegel der Gesellschaft. Vermutlich mussten erst junge Juristen wie der 44-jährige Will antreten, um an die alten Geschichten heranzugehen. Als die "Zentrale Stelle" vor 47 Jahren eröffnet wurde, war Thomas Will noch nicht geboren.

Jahrelang unbehelligt

Die Landesjustizminister riefen sie im November 1958 ins Leben - eine Amtsgründung wider Willen. Es gab weniger echten Aufklärungswillen als politischen Handlungsbedarf, denn kurz zuvor hatte der so genannte Einsatzkommando-Prozess für Schlagzeilen gesorgt. In Ulm waren zehn Männer schier unglaublicher Verbrechen angeklagt: Als Angehörige des Kommandos "Tilsit" sollten sie hinter der Front Tausende Menschen umgebracht haben, in einem alten Fernschreiben war von nahezu 140.000 Toten die Rede.

Dass die Männer nach 1945 zunächst jahrelang unbehelligt in Büros und Betrieben gearbeitet hatten, erschütterte die Öffentlichkeit. Indes hatte die unterlassene Strafverfolgung durchaus Methode: Herkömmliche Staatsanwaltschaften sahen es nicht als ihre Aufgabe, über Taten zu ermitteln, die im Ausland begangen worden waren - schon gar nicht, wenn Namen und Wohnsitze der Verdächtigen nicht feststanden.

Mit der "Zentralen Stelle" sollte diese Zuständigkeitslücke geschlossen werden. Fortan war die neue Behörde damit betraut, Vorermittlungen über im Ausland begangene Verbrechen zu führen, Namen und Wohnorte möglicher Täter ausfindig zu machen und die Akten an die örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften weiterzugeben.

Objekt der Ermittlungen waren vor allem die Massentötungen in den Vernichtungslagern und Erschießungsaktionen von Einsatzkommandos. Mit vier Mitarbeitern nahm die Behörde 1958 ihre Arbeit auf, wenige Jahre nach der Gründung gab es einen ersten Skandal: Oberstaatsanwalt Erwin Schüle, der erste Leiter der Zentralstelle, war selbst NSDAP- und SA-Mitglied gewesen - nach Protesten im In- und Ausland musste er 1966 den Posten räumen.

Morddrohungen im Briefkasten

Ihm folgte Adalbert Rückerl, ein streitbarer Staatsanwalt, der bald mit dem konservativen Establishment in Konflikt geriet. Als er 1968 mit einigen Mitarbeitern nach Moskau reiste, um Dokumente über Judenliquidierungen und Partisanenerschießungen einzusehen, wurden die Ermittler von einem CDU-Abgeordneten im Bundestag als "unsere Idioten" beschimpft, und im Briefkasten der Behörde gingen Morddrohungen ein.

Noch im selben Jahr machte das Parlament mit einer scheinbar geringfügigen Gesetzesänderung einen wichtigen Bereich der NS-Ermittlungen zunichte: Plötzlich waren die Schreibtischtäter von SS-Chef Heinrich Himmler, die Bürokraten der Endlösung, wegen fortgeschrittener Verjährung nicht mehr zu belangen - und so endete ein akribisch vorbereiteter Prozess gegen Mitarbeiter des berüchtigten Reichssicherheitshauptamtes im Nichts.

Schon zuvor hatten die Ermittler mit allerlei rechtlichen Hürden zu kämpfen. So war es nach den Überleitungsverträgen der Alliierten grundsätzlich nicht möglich, gegen Tatverdächtige vorzugehen, die nach dem Krieg bereits im Visier von Amerikanern oder Engländern gewesen waren - selbst wenn zwischenzeitlich eine völlig neue Beweislage eingetreten war.

Auch mit den örtlichen deutschen Polizeidienststellen gab es Probleme. So enthüllte die zeitweise nach Ludwigsburg abgeordnete Mannheimer Staatsanwältin Barbara Just-Dahlmann seinerzeit bei einer Tagung, dass in der Zentralstelle zuweilen gezögert werde, Ermittlungsunterlagen an die Polizei weiterzugeben: Weil man nicht wisse, "ob die Akten dort nicht in die Hände eines Beamten geraten, der zu dem von ihr gesuchten Täterkreis gehört".

Eine durchaus begründete Sorge, denn ausgerechnet bei der Polizei waren nach dem Krieg besonders viele einstige Angehörige von Erschießungskommandos gelandet.

Ein Schleppnetz für die letzten Fische

Anfang der siebziger Jahre, zwischenzeitlich hatte die Studentenbewegung für Wirbel im Lande gesorgt und die mangelnde Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zum Thema gemacht, brach die Hochzeit der Zentralen Stelle an. Jetzt fahndeten 126 Mitarbeiter nach NS-Tätern, darunter 48 Staatsanwälte und Richter.

Zahlreiche Dolmetscher gingen ihnen zur Hand, Justizgehilfen legten Karteikarten über Karteikarten an. Mit Hilfe der Ludwigsburger wurden die wichtigsten deutschen NS-Prozesse der Nachkriegszeit vorbereitet: Von den beiden Auschwitz-Verfahren in Frankfurt bis zu dem Majdanek-Prozess, der 1981 in Düsseldorf seinen Abschluss fand.

Mittlerweile hatte es die Behörde selbst im konservativen Residenzstädtchen Ludwigsburg zu Ansehen gebracht. Vom ehemaligen Männergefängnis, ihrem ersten Domizil, zog sie in den einstigen Frauenknast um, ein Gebäude mit typisch deutscher Vergangenheit.

"Hexe von Buchenwald"

Bei Renovierungsarbeiten fand sich ein Dielenbrett mit der Aufschrift: "Verlegt unter der Herrschaft der Hackenkreuzler 1933". Und: "Letzte Hoffnung, armes Volk."

Nach dem Krieg wurde die "Hexe von Buchenwald", Ilse Koch, die aus Ludwigsburg stammende Frau des Buchenwalder KZ-Kommandanten, zeitweise in dem Bau gefangen gehalten. Heute prangt in schwarzer Lackfarbe ein "SS"-Zeichen auf der hohen Bruchsteinmauer, die das aus dem Barock stammende Gebäude umgibt.

Drinnen hat man im ersten Moment das Gefühl, als sei die Zeit stehen geblieben. Eine uralte Adressiermaschine arretiert die Eingangstür, am Glasfenster zur Pförtnerloge klebt ein handgeschriebener Zettel: "Bin im Hof". Im ersten Stockwerk stapeln sich vergilbte Mappen in altertümlichen Holzregalen, während am Konferenztisch des Chefzimmers Bedienstete das Mittagsmahl einnehmen.

Die Belegschaft der Zentralstelle ist auf 20 Mitarbeiter zusammengeschrumpft, doch der Aktenbestand ist schier überwältigend. Hinter einer immerhin mittels elektronischer Technik gesicherten Tür liegt das Herzstück des Gebäudes, der Karteikartenraum. Genau 1.657.567 Karten stecken hier in grauen Blechschränken. 687.380 Namen sind darauf vermerkt, 608.945 Orte und 4247 Einheiten.

In Ludwigsburg sind nahezu alle NS-Verfahren gespeichert, die je in der Bundesrepublik geführt wurden. Wer immer beschuldigt war oder auch nur vernommen wurde - sein Name sollte sich in einem der Blechkästen finden. Die Karteikarten sind heute von unschätzbarem Wert für die zeitgeschichtliche Forschung, namhafte Historiker, ob Christopher Browning oder Daniel Goldhagen, haben schon Monate in Ludwigsburg verbracht.

Auch das Bundesarchiv streckte seine Arme aus: Seit dem Frühjahr 2000 hat sich eine Außenstelle in Ludwigsburg breit gemacht. Zug um Zug lösen die Archivare jetzt die vergilbten Papiere aus den alten Schnellheftern und packen sie in saubere graue Pappkartons, die mit frischen weißen Schildchen gekennzeichnet sind - so wandelt sich Strafverfolgung unmerklich in Zeitgeschichte.

Kistenweise Akten

Insgesamt etwa 16.000 Ermittlungsverfahren mit rund 100.000 Beschuldigten haben die Ludwigsburger Ermittler seit 1958 angestoßen. Überdies sammelten sie alle Kopien von Verfahren, derer sie habhaft werden konnten.

Freilich schützte ihre Sammelwut die Fahnder nicht davor, zahlreiche NS-Täter zu übersehen. So war der Elan von Ludwigsburg schon sichtlich erschlafft, als die Uno-Kommission für Kriegsverbrechen 1986 kistenweise Akten nach Deutschland sandte. Aus den Unterlagen wurden kaum nennenswerte Ermittlungen eröffnet, man schloss die Mappen schon nach oberflächlicher Prüfung.

Dabei enthielten sie, wie man heute weiß, wertvolle Informationen, allerdings waren diese, da von Mikrofilmen abkopiert, oft so klein gedruckt, dass sich die Beamten wohl nicht die Augen daran verderben wollten.

Heute gehen die Ermittler hingegen auch dem kleinsten Hinweis nach. Da versucht Kriminalhauptkommissar Haag mühevoll, Puzzlesteine über die Erschießung von 127 italienischen Kriegsgefangenen in der Nähe des brandenburgischen Ortes Treuenbrietzen zusammenzuklauben. Die Tat war am 23. April 1945 begangen worden, zwei Wochen vor Kriegsende.

"Die Opfer sind mir alle namentlich bekannt", meint Haag. Von den Tätern aber weiß er praktisch nichts. Lehmann soll einer der Haupttäter geheißen haben - "finden Sie mal einen Lehmann, Müller oder Schmidt", stöhnt Haag. Er ist schon zufrieden, "wenn ich nur irgendwen entdecke, der am Tatort war".

Doch selbst wenn er einen Täter aufspüren würde, wäre der Weg zur Verurteilung noch weit - praktisch gelten inzwischen die meisten Tötungsdelikte nur noch als Totschlag, wie der Behördenleiter Schrimm erklärt, "und das Delikt ist verjährt".

So geht es ihm denn auch vor allem darum, am Ende "alles getan zu haben für die Aufklärung, was in unserer Macht stand". Erst dann kann er guten Gewissens die Schließung vorschlagen.

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