NRW:So führen Merkel und Schulz den Machtkampf im Westen

NRW: Auf Tuchfühlung mit dem Volk: Angela Merkel und Martin Schulz auf Wahlkampftour in Nordrhein-Westphalen

Auf Tuchfühlung mit dem Volk: Angela Merkel und Martin Schulz auf Wahlkampftour in Nordrhein-Westphalen

Die Parteichefs von CDU und SPD sind gerade nirgendwo so oft zu sehen wie in Nordrhein-Westfalen - mit gutem Grund. Zwei Wahlkampfabende in der Provinz.

Von Benedikt Peters, Werl/Waldbröl

Als alles vorbei ist, steht ein trauriger Junge von elf Jahren vor einem Fachwerkhaus in der Fußgängerzone von Waldbröl. "Ich hab alles jejeben", sagt er in rheinischem Singsang, "aber die haben mich nit reinjelassen. Keine Karte, so'n Pech. Dat passiert ja nicht alle Tage, dat die Bundeskanzlerin in so'n Kaff kommt." Immerhin, sagt er später, habe er noch gesehen, wie Angela Merkel abgereist ist. Mit dem Hubschrauber.

Zwei Stunden vorher: Die Kanzlerin sieht ein bisschen müde aus. Sie kneift die Augen zu, aber das kann auch am Scheinwerferlicht liegen. Es ist Donnerstag, der 4. Mai. Merkel war in dieser Woche schon bei König Salman in Saudi-Arabien und in den Vereinigten Arabischen Emiraten, dann traf sie Wladimir Putin in Sotschi. Jetzt steht sie auf der Bühne in der Nutscheidhalle in Waldbröl. Die Teenies von der Jungen Union Oberbergischer Kreis stehen hinten und recken die Hälse. Merkel sagt: "Es geht um jede Stimme."

Eine weitere Woche vorher: Martin Schulz sieht ein bisschen müde aus. Er kneift die Augen zu, aber das kann auch am Scheinwerferlicht liegen. Es ist Donnerstag, der 27. April. Schulz war in dieser Woche schon beim Wahlkampf in Schleswig-Holstein, in einem Ausbildungszentrum in Oberhausen und bei Gewerkschaftern in Essen. Jetzt steht er am Rednerpult in der Stadthalle Werl. Die Mitglieder vom SPD-Ortsverein Soest schwenken Schilder mit seinem Namen. Schulz sagt: "Völlig klar, dass das hier bundespolitische Bedeutung hat."

Schulz und Merkel touren durch NRW, als seien sie selbst die Spitzenkandidaten

Am kommenden Sonntag wählt Nordrhein-Westfalen eine neue Landesregierung. Die Nervosität ist nicht nur im Westen Deutschlands groß, sondern auch in Berlin. Den Umfragen zufolge sieht es nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus, dessen Ausgang die Bundespolitik erheblich beeinflussen könnte. In Nordrhein-Westfalen wohnt jeder fünfte Deutsche, so viele wie in keinem anderen Bundesland. Zudem ist die Abstimmung im Westen der letzte große Stimmungstest vor der Bundestagswahl im September. Sie ist in diesem Sinne wichtiger als die zurückliegenden Wahlen im Saarland und in Schleswig-Holstein, bei denen vergleichsweise wenige Wähler gefragt waren.

Weil beide das wissen, touren Merkel und Schulz gerade durch NRW, als seien sie hier selbst die Spitzenkandidaten. Die CDU-Chefin tritt nicht nur in Waldbröl auf, diesem von Kuhwiesen gesäumten Örtchen östlich von Köln, dem das Volkslied "Kein schöner Land" gewidmet ist. Merkel war auch in Beverungen in Ostwestfalen und in Oelde im Münsterland, im Bonner Stadtteil Bad Godesberg und in Grevenbroich, der niederrheinischen Heimat von Hape Kerkelings Kunstfigur "Horst Schlämmer". In dieser Woche fährt sie noch nach Brilon im Hochsauerlandkreis, nach Haltern bei Recklinghausen und zum Wahlkampfabschluss nach Aachen.

Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz wiederum hat in den vergangenen Wochen so viele Termine in Nordrhein-Westfalen absolviert, dass man schlicht den Überblick verloren hat. Gesichert ist: Er war in Düsseldorf, Hamm, Essen, Oberhausen, Mülheim, Gladbeck, Aachen, Herford, Hagen, Remscheid. Und eben in Werl, diesem 30 000-Einwohner-Städtchen östlich des Ruhrgebiets, in dem ein Lebensmittelgeschäft noch im Jahr 2017 damit wirbt, dass man hier "Südfrüchte" kaufen kann.

Merkel verhaspelt sich

Die Wahlkampfabende in Werl und Waldbröl zeigen: Schulz und Merkel sind mit unterschiedlichen Strategien in die Provinz gefahren. Schulz bemüht in Werl das große Wir, mit jedem Wort und mit jeder Geste zeigt er: Ich bin einer von euch. Er sagt: "Ich möchte, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der nicht die formale Qualifikation über den Wert eines Menschen entscheidet." Merkel argumentiert in Waldbröl lieber nüchtern und kühl. Sie sagt: "Es geht darum, dass Sie gut vertreten werden im nordrhein-westfälischen Landtag."

Andererseits scheint es den Zuhörern auch ziemlich egal zu sein, was die Bundeskanzlerin sagt. Die Hälfte von ihnen verschwindet hinter gezückten Smartphones. Die einen filmen die Rede der Kanzlerin, die anderen sind bei Whatsapp. Merkel kritisiert das sogar, als sie sagt, heutzutage würden ja immer alle nur auf ihr Smartphone starren. "Drei Mal am Tag muss auch mal Vorfahrt sein für den, der neben einem sitzt oder steht." Die Waldbröler applaudieren - und schauen weiter auf ihre Bildschirme.

So fällt es auch nicht weiter ins Gewicht, dass sich Merkel in der Nutscheidhalle mehrmals verhaspelt. Den örtlichen CDU-Kandidaten Bodo Löttgen nennt sie einmal "Bodo Löttger". Über den Spitzenkandidaten der NRW-CDU sagt sie den wunderbaren Satz: "Es geht um Armut La... äh, um Armin Laschet." Und als sie versucht, den Erscheinungstag der letzten Arbeitslosenzahl zu beziffern: "Heute, gerade gestern oder vorgestern... vor ein paar Tagen ... na ja, Ende des Monats, Anfang des ... also, die letzten Mai-, äh, März-, äh, Apriltage ... mein Gott."

Schulz scheint vergessen zu haben, dass er für die NRW-SPD kämpfen soll

Schulz in Werl wirkt konzentrierter, er leistet sich nur eine Ungenauigkeit, als er einen Satz des AfD-Rechtsaußen Björn Höcke falsch zitiert. Dieser habe in Bezug auf die Holocaust-Gedenkstätte in Berlin vom "Mahnmal der Schande" gesprochen, sagt Schulz, eigentlich sagte Höcke aber "Denkmal der Schande."

Der SPD-Spitzenkandidat hält an diesem Abend eine kämpferische Rede. Er stößt die Worte aus, er ballt die Fäuste, macht Kunstpausen. Und er bekommt Applaus im Minutentakt. Merkel gestikuliert sparsamer, hält die Arme oft verschränkt. Auch sie bekommt Applaus, aber es ist weniger enthusiastisch, eher höflich.

Schulz' großes Thema ist auch in Werl die Gerechtigkeit. Die Gesellschaft sei in Gefahr, wenn es nicht endlich fairer zugehe, so seine Botschaft. Unter ihr versucht er, alle seine Forderungen zusammenzubinden: Dass es höhere Löhne geben müsse und mehr Chancengerechtigkeit in der Bildung. Dass die Bundesregierung lieber mehr Geld in die Pflege stecken solle als in die Verteidigung. Dass die europäische Idee Wohlstand und Frieden für alle verheiße, und dass die AfD diese Idee bedrohe.

Allerdings scheint Schulz' bei all seinen programmatischen Forderungen in Werl vergessen zu haben, dass er hier ist, um für die NRW-SPD Wahlkampf zu machen. Über landespolitische Themen spricht er so gut wie nicht, lediglich Hannelore Krafts Sozialprogramm "Kein Kind zurücklassen" erwähnt er kurz.

Die Bundeskanzlerin hingegen ist trotz der Treffen mit Putin und König Salman näher dran an der Landespolitik. Sie kritisiert die Landesregierung dafür, dass "die Länge der Staus in Nordrhein-Westfalen so weit ist wie von der Erde bis zum Mond". Und sie sagt, NRW habe 22 Prozent der Einwohner, aber 38 Prozent der Wohnungseinbrüche in Deutschland. "Was sagt uns das? Dass der inneren Sicherheit hier nicht ausreichend Raum gegeben wird." Da lässt sich schwer widersprechen.

Die Bundeskanzlerin zieht auch mehr Zuschauer an. In die Nutscheidhalle von Waldbröl sind um die 1000 Menschen gekommen, zu Schulz in Werl vielleicht 400.

Merkels Rede in Waldbröl, Schulz Rede in Werl, für beide haben die Organisatoren eine halbe Stunde eingeplant. Die Bundeskanzlerin sagt ihren letzten Satz nach 31 Minuten, der SPD-Chef seinen nach 47. Als er fertig ist, schreitet Schulz langsam aus dem Saal, an den Zuschauern vorbei, er gibt Autogramme, macht Fotos, er schüttelt Hände und umarmt Menschen. Angela Merkel nimmt in der Nutscheidhalle lieber schnell die Hintertür.

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