Nowitschok in Salisbury:Zwei Opfer, in so vieler Hinsicht

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  • Dawn Sturgess, die im südenglischen Salisbury mit dem Gift Nowitschok in Berührung kam, ist gestorben. Ihr Partner Charlie Rowley ringt noch immer mit dem Tod.
  • Im Gegensatz zum Fall Skripal handelt es sich diesmal wohl nicht um ein Attentat.
  • Sturgess und Rowley könnten sich beim Wühlen in Containern vergiftet haben.

Von Cathrin Kahlweit, Salisbury

Seit Tagen schon hatte die Kirchengemeinde in der Kathedrale von Salisbury Dawn Sturgess und Charlie Rowley regelmäßig in ihre Gebete eingeschlossen, ihnen Gesundheit gewünscht und ein besseres Leben. Aber Dawn hat es nicht geschafft, sie ist am Sonntag gestorben, und Charlie ringt mit dem Tod. Er tut das seit mehr als einer Woche hinter Absperrungen und Polizeiwagen im Norden der Stadt, im Krankenhaus von Salisbury, das vor vier Monaten das erste Mal irritierende Berühmtheit erlangte, als der russische Ex-Spion Sergej Skripal und seine Tochter Julia mit schweren Vergiftungserscheinungen eingeliefert worden waren.

Vermutlich kennt niemand Dawn Sturgess und Charlie Rowley persönlich im besseren Teil der Innenstadt, wo nun für sie gebetet wird - dort, wo die berühmte Kirche mit ihrem Kreuzgang inmitten einer großen Grünfläche aufragt. Eine der wenigen Originalkopien der Magna Carta ist im Domkapitel ausgestellt, Touristen umschleichen das kunstvoll kalligrafierte, mittelalterliche Dokument bewundernd.

Im Kreuzgang üben Sechstklässler für ein Theaterstück. Zwei Klassen haben ihre Teilnahme an dem Projekt abgesagt, bei dem Hunderte Schüler den Stolz auf sich selbst und ihre Identität spielerisch erkunden sollen; ihre Eltern sorgten sich um die Sicherheit der Kinder. Aber die meisten sind gekommen, Musik erfüllt den Dom.

Und so steht die Kathedrale von Salisbury an dem Wochenende, an dem Dawn Sturgess an einer Nowitschok-Vergiftung starb und die Polizei des Bezirks Wiltshire die Ermittlungen von versuchtem Mord auf Mord ausweitete, in ihrer ganzen Pracht im Sonnenlicht, als wolle sie Werbung machen für das schöne, das stolze, das wohlhabende England, das sich in der Kleinstadt im Westen Londons präsentiert. Domherr Edward Probert hat sich im Kreuzgang aufgebaut und erklärt, dass die Hauptsorge der Stadt jetzt den beiden neuen Opfern gelte, Sturgess und Rowley, und dass die neue Entwicklung doch sehr schockierend sei.

Ein Schock ist es, weil es so aussieht, als gehe alles von vorn los. Der ganze Wahnsinn vom Frühjahr war doch schon fast vergessen, die Skripals sind längst entlassen und von der britischen Polizei an einen unbekannten Ort gebracht worden, die Touristenzahlen, die um bis zu 40 Prozent gefallen waren, sind endlich wieder gestiegen. Und nun: zwei weitere Opfer aus Salisbury. Antiterrorpolizei in der Stadt, abgesperrte Bereiche in der City. Hundert Beamte, die die Gegend durchkämmen, mögliche Tat- und Fundorte absuchen. Und eine Regierung, die - an Moskau gerichtet - protestiert, es sei fürchterlich zu wissen, dass Russland britische Staatsbürger auf britischem Territorium töte.

Und doch ist diesmal alles anders. Es ist kein neues Attentat, höchstwahrscheinlich. Sturgess und Rowley sind vielmehr Opfer im doppelten Sinne: späte Leidtragende des Anschlages, der den Skripals galt, nicht ihnen. Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Und sie kämpften mit ihrem eigenen Leben, mit zeitweiliger Obdachlosigkeit, Drogen, Sucht.

Sturgess war Alkoholikerin, nur selten trocken, ihre drei Kinder lebten nicht bei ihr. Sie wohnte zuletzt in einem Obdachlosenheim, dem John Baker Hostel - dort, wo die romantische Innenstadt von Salisbury etwas weniger romantisch ist, wo ausgemergelte Gestalten vor Supermärkten herumstehen und auf jemanden warten, der ihnen Geld oder ein Sandwich zusteckt, dort, wo die mittelalterliche Pracht der Südstadt gesichtslosen Backsteinhäusern weicht.

Lagen in Salisbury noch Reste des Gifts vom Skripal-Anschlag?

Rowley war Ex-Junkie, heroinsüchtig, er war gerade in ein Methadon-Programm aufgenommen worden und hatte eine Wohnung im acht Kilometer entfernten Amesbury bezogen. Die beiden waren ein Paar, er übernachtete immer wieder mal bei ihr im Hostel, Sturgess zuletzt vermehrt bei ihm in Amesbury. Nun sind ihre Namen, ihre Leben die neuen Symbole für eine Stadt und einen Skandal: dass, wenn die Vermutungen der Polizei stimmen, irgendwo in Salisbury Reste des Nervengiftes herumlagen, mit dem Sergej und Julia Skripal in Berührung gekommen waren. Und dass niemand sagen kann, ob die beiden jetzt die letzten Opfer waren.

Die Kathedrale hatte im Frühjahr ein Projekt begonnen, "Colombes" heißt es; 2500 weiße Origami-Tauben des Künstlers Michael Pendry hängen im Kirchenschiff. Es sollte ein Friedenssymbol sein, unabhängig von dem ganzen Skripal-Drama, nun ist es zum Zeichen der Stadt geworden. Überall in den Schaufenstern der City, in den Fenstern von Wohnhäusern hängen gefaltete Papiertauben, alle machen mit, zur Selbstvergewisserung, dass diese ganze schreckliche Geschichte mit dem Gift nicht die Atmosphäre vergiftet.

In Salisbury ist immer noch der Park abgesperrt, an dem sich Rowley und Sturgess aufgehalten hatten, bevor sie sich schlecht fühlten. Ein ehemaliger Polizist, Peter Kirkham, steht davor, er glaubt, dass die Polizei wohl nie finden wird, was sie sucht: das "Behältnis", in dem das Gift zu den Skripals transportiert und das später entsorgt wurde. "Eine Wahnsinns-Recherche, die wissen nicht was und wonach sie suchen." Dawn Sturgess kann es ihnen nicht mehr sagen. Das Hostel, in dem sie lebte, ist evakuiert und wird derzeit Millimeter für Millimeter durchsucht, die Wohnung und eine Drogerie in Amesbury sind abgesperrt und abgeschlossen, doch bisher: nichts.

Freunde des Paares glauben, dass Sturgess und Rowley sich beim "Bin-Diving" infiziert haben könnten: Sie hatten regelmäßig in Altkleidercontainern und Altglascontainern nach Verwertbarem gesucht. Gut möglich, dass in einem Container etwas lag, was sonst niemand mehr angefasst hätte. Zwei Opfer, in so vieler Hinsicht.

© SZ vom 10.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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