Notizen vom G-8-Gipfel:Ein Magnetfeld am Meer

G8 Heiligendamm, Angela Merkel, Wladimir Putin

Politische Fotografie G8-Gipfel, Heiligendamm Angela Merkel in Heiligendamm mit ihren Gästen beim Versuch die Aufstellung zum Familienfoto zustande zubringen, 8.6.07

(Foto: Regina Schmeken; Regina Schmeken)

Große Auftritte der Kleinen, kleine Gesten der Großen: Für ein paar aufgeladene Tage hat Heiligendamm die Weltenlenker und die Weltverbesserer angezogen - doch die Polarisierung kann fast nirgends überwunden werden.

Stefan Klein

Drei Tage hat sie dirigiert und moderiert, hat gefeilscht, gedrängt und in der Klimafrage aus Stillstand Bewegung gemacht, jedenfalls ein kleines bisschen. Wo immer Beobachter zugelassen waren, sah man sie in der Mitte, mater familias, und die anderen drumherum.

Es war ein Heimspiel vor weltweitem Publikum, mit Hooligans und Medienzirkus, und die Chance, sich dabei selbst zu inszenieren, hat Angela Merkel genutzt. Jetzt ist Schluss. Gerade haben die Mächtigen, die in Wahrheit so mächtig gar nicht mehr sind, ein letztes Mal diniert. Diesmal mit den Aufstrebenden und den Ohnmächtigen dieser Welt.

Was nun kommt, ist das gewohnte politische Graubrot und im Fall des Tony Blair die Rente. Angela Merkel erwartet das bereits anbrandende Hohngeschrei der Opposition, die den Klimakompromiss für eine Mogelpackung hält. Aber noch sonnt sie sich im Glanz ihres Gipfels, als sie jetzt, Freitagnachmittag, vor der Presse ihre Bilanz zieht. Es ist, wen wundert es, eine positive.

Eine turbulente Woche ist zu Ende, mit vielen Darstellern auf vielen Bühnen, großen und kleinen, hinter dem Zaun und vor dem Zaun. Wir blenden noch mal zurück.

Sonntag.

Wir können Rainer Friedemann nicht mehr besuchen, da ist der Zaun vor. Also muss Rainer Friedemann uns besuchen, und freundlicherweise tut er das auch. Er als Heiligendammer Bürger nämlich darf den Zaun passieren. Wir treffen uns an der Passierstelle Hinter Bollhagen. Friedemann ist so jovial, wie wir ihn vom letzten Mal in Erinnerung haben, er weiß seine Enttäuschung zu verbergen. Er hatte sich alles ein bisschen anders vorgestellt.

Dass es für ihn Einschränkungen und Behinderungen geben würde, wusste er. Aber er dachte, dass er durch die Nähe zu den politischen Promis entschädigt werden würde. So wie im vorigen Jahr. Da war George W. Bush in Heiligendamm zu Gast, und Friedemann und seine Pia konnten ihn fast hautnah erleben, wie er durch den Wohld radelte. Der Wohld ist Heiligendamms Buchenwald und Pia Herrn Friedemanns Dackel. Friedemann hat Fotos gemacht von George W. Bush, eine ganze CD voll.

So, dachte er, würde es auch diesmal sein. Ein Blick auf Putin, Blair und Co. und am Ende eine neue CD. Friedemann fotografiert leidenschaftlich gerne. Doch dann bekam er seine Kennkarte, und die ist grün. Grün aber ist nicht gut genug. Es gibt nämlich innerhalb des Zauns noch einen weiteren Zaun, und der hat den Zweck, auch noch die knapp 300 Heiligendammer vom Gipfel fernzuhalten.

Nur wer eine blaue Kennkarte hat, darf ins Allerheiligste, das Kempinski Grand Hotel. Wer grün hat, kommt seit dem 30. Mai nicht viel weiter als bis zu seinem Wohnhaus. Das bedeutet für Pia und ihr Herrchen, dass sie ihre gewohnten Wege nicht mehr machen können, auch ans Meer kommen sie nicht mehr, und dabei begann doch am 1. Juni Friedemanns Badesaison. Von da an geht er ins Wasser, egal wie kalt es ist. Einschränkungen in der Tat, und die Belästigungen beim Passieren des äußeren Zauns kommen noch dazu.

Rausfahren ist einfach, aber wieder rein? Friedemann kann lange davon erzählen, von den Spiegeln, mit denen sie den Unterboden abspiegeln, von den Spezialhunden, die das Innere seines Autos auf Verdächtiges hin durchschnüffeln, von den Metalldetektoren, den Röntgengeräten und den Verzögerungen, die, wenn sich's staut an der Schleuse, zwei Stunden dauern können.

Dass er als unbescholtener Bürger intensiver kontrolliert wird als "die draußen, die Randale machen" - Friedemann findet es ungerecht. Aber er muss rein und raus, weil er einen Job hat in Rostock, und einkaufen muss er auch. Für seine Gäste. Friedemann hat Ferienwohnungen, aber weil er nicht wusste, ob er die würde vermieten dürfen während des Gipfels, hat er Dienstreisende gewählt: vier untadelige Herren, die nur den Nachteil haben, dass ihr Dienst um sechs Uhr morgens beginnt. Fürs Frühstückmachen müssen die Friedemanns jetzt immer früh raus - zum Wohle des Bundeskriminalamts.

Montag.

Für diesen Tag hat sich der Gipfel einiges vorgenommen: Afrika, Aids und die neuen globalen Herausforderungen. Es ist ein Programm von morgens bis abends, unterbrochen nur von kurzen Pausen. So viel Ausdauer muss man erst mal haben - vor allem, wenn man nicht etwa konferenzgestählter Staats- oder Regierungschef, sondern nur ein Schüler ist, 13, 14, maximal 17 Jahre alt.

Was sie in Heiligendamm können, können sie in der nicht weit entfernten Hafenstadt Wismar auch: Da findet in diesen Tagen ebenfalls ein Gipfel statt, nicht G 8, sondern J 8 - der Junior-8-Gipfel. Der braucht keinen Zaun, kein Polizeiaufgebot, und ein Partnerprogramm ist ebenfalls entbehrlich. Sonst aber geht es ähnlich zu, wenn man davon absieht, dass an diesem Tag die Jugendlichen zu Beginn ihrer Beratungen erst einmal die Hände reiben - wegen der Energie, die dabei entsteht. Gegenseitig gibt man sie sich weiter.

74 junge Leute, je acht aus den G-8-Staaten und dann noch zehn weitere aus Entwicklungs- und Schwellenländern, sind eingeladen worden, um miteinander, und zwar gleichberechtigt, die Probleme dieser Welt zu wälzen und Vorschläge zu machen für deren Lösung. Diese dürfen sie am Ende dann sogar den G-8-lern in Heiligendamm vortragen, aber so weit ist es jetzt noch nicht.

Gerade hat sich das Plenum aufgeteilt in Arbeitsgruppen, und diejenige, die sich "Sommergruppe" nennt, wendet sich dem Problemfall Afrika zu. Man sitzt im Kreis, das Mikrophon wandert von einem zum anderen, und besonders häufig macht es bei einem Mädchen halt, das sich gut auszukennen scheint. Kein Wunder, es ist aus Sierra Leone. Es redet von der Armut und dem Reichtum ihres Landes, von der Korruption, und es fragt, warum die Reichen nichts tun, um den Armen zu helfen. Ja, warum? Ihre Sitznachbarin, eine Französin, sagt, die G 8 seien Kapitalisten, die engagierten sich nur, wo es um ihre Interessen gehe. Ob sie das so gerne hören werden, die Scheinheiligen am Damm?

Von Wismar fahren wir weiter nach Reddelich zur Familie Korinth. Anfang Mai hatten wir bei Frau Korinth auf einen Kaffee in der Küche gesessen, und sie hatte gesagt: "Man muss die Dinge auf sich zukommen lassen." Andreas Elmer, der stellvertretende Bürgermeister, hatte auch dabeigesessen und gesagt: "5000 Leute, wenn die loslaufen, das ist schon was." Da hatte sich die Gemeinde gerade entschieden, freie Flächen in ihrem Gewerbegebiet den G-8-Gegnern für ein paar Wochen zum Campen zur Verfügung zu stellen. Wenn man die Protestierer mit offenen Armen empfange, so die Überlegung, dann würden sie sich als Dank bestimmt gut benehmen. Mulmig war den Reddelichern trotzdem. Frau Korinth war vor allem beunruhigt wegen der Kinder. Würde sie Marvin, zehn, und Louisa Maria, neun, wie gewohnt mit dem Schulbus fahren lassen können? Würde man sie nicht besser zu Hause lassen für ein paar Tage? Solche Sorgen, aber gleichzeitig auch ein bisschen Kitzel: "Man muss so was mal miterleben."

Heute nun dieselbe Küche, wieder ein guter Kaffee, aber Frau Korinth ist sehr viel entspannter. Sie hat die Dinge auf sich zukommen lassen, und die Dinge haben sich ganz anders entpuppt als gefürchtet. Zweimal ist sie mit den Kindern schon im Camp gewesen, und was soll man sagen? Die Kinder sind begeistert. Vor allem Marvin. Der hatte sich nach den Erzählungen seines Freundes die Camper "ziemlich brutal" vorgestellt, umso überraschter war er dann, als er feststellte, "wie nett die sind". Das Netteste in seinen Augen ist zweifellos der Spielplatz, den sie gebaut haben. Alles aus Holz, sogar ein richtiges Karussell. Da habe er wirklich gestaunt, sagt Marvin, "was die aus Holz und Seilen alles gemacht haben". Jetzt überlegen sie in Reddelich sogar, ob der Spielplatz nicht vielleicht bleiben könnte, wenn die Camper weg sind.

Es sind aufregende Zeiten für das Dorf. Hier ist ja nie viel los gewesen, aber jetzt wird alles nachgeholt und in ein paar Tage hineingepackt. Marvin und sein Freund Philipp haben kürzlich mal die Polizeiautos gezählt, die an einem Tag durch ihr Dorf fuhren. Philipp kam auf 168, Marvin auf 146. Marvin wird noch viel Gelegenheit haben, Polizeiautos zu zählen. Von Mittwoch an wird seine Mutter ihn und seine Schwester für den Rest der Woche zu Hause behalten. Schulfrei. Wegen der Blockaden.

Dienstag.

Massaker. Mörderische Weltordnung. Kalte Monster. Raubtierkapitalismus. Leichenberge. So eine Predigt hat die ehrwürdige Nikolaikirche in Rostock wohl noch nie gehört. Ein älterer Herr, der Prediger, etwas müde und angestrengt, wie er so dasitzt, aber als er sich erhebt und anfängt zu reden, ist es, als öffnete sich eine Schleuse.

Was sie freigibt, sind schweizerisch gefärbte Worte, viele Zahlen, unglaublich viele Zahlen, Zitate und gezielte, kleine Bosheiten. Es ist kein großer Redner, der da spricht, dazu ist der Redefluss zu stockend. Aber es geht eine rhetorische Wucht von ihm aus, der sich in der bis zum letzten Winkel gefüllten Kirche keiner entziehen kann. Immer wieder unterbrechen sie ihn mit Klatschen, am Ende jubeln sie ihm zu. Da hat Jean Ziegler Pablo Neruda zitiert: "Sie, unsere Feinde, können alle Blumen abschneiden, aber nie werden sie den Frühling beherrschen."

Eröffnung des Alternativgipfels in Rostock. Mit der Wahl des Auftaktredners Jean Ziegler haben die Veranstalter gut gewählt. In der Schweiz nahezu verfemt als Nestbeschmutzer, gilt der Buchautor und UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung als der grand old man der Globalisierungskritik - und diesem Ruf bleibt er in der Nikolaikirche nichts schuldig.

Das Bild, das Ziegler beschreibt, ist das einer Welt, die von den Oligarchen des transkontinentalen Weltkapitals mit dem Instrument des Neoliberalismus im Würgegriff gehalten wird. So eine Macht, ruft er, sei ohne Beispiel, kein König, kein Kaiser, kein Papst hätte sie je gehabt. Was sie anrichte, sei ein unmenschliches System der strukturellen Gewalt mit 845 Millionen unterernährten Menschen allein im vergangenen Jahr. Er wolle sich ja nicht entrüsten, sagt Ziegler - und entrüstet sich weiter.

Als das Feuerwerk abgebrannt ist, folgt eine Podiumsdiskussion, und die afrikanische Aktivistin Madjiguene Cissé sagt bewundernd, das nächste Mal werde man einen wie Ziegler unbedingt einladen müssen zu den Blockaden, als Bereicherung. Ziegler revanchiert sich für das Kompliment. Er sagt mit Blick auf seine beiden Podiumsnachbarinnen Cissé und Thuli Makama, eine Umweltschützerin aus Swasiland, in dieser Kirche werde Afrika durch zwei außergewöhnliche Frauen geehrt.

Jenseits des Zaunes dagegen bei den G-8-lern werde Afrika beleidigt durch das für Freitag geplante Erscheinen des neuen nigerianischen Staatschefs Umaru Yar'Adua. Den nennt Ziegler einen Bandenchef und extremen Islamisten, hervorgegangen aus betrügerischen Wahlen. Dass man gerade den eingeladen habe, findet Ziegler, zeige zweierlei: Die "totale Verlogenheit der G 8", aber auch die enorme Macht der Konzerne, die in Nigeria nach Öl bohren.

Mittwoch.

Es wird kein Tag für Heuschnupfer. Es wird ein Tag für Fahrradfahrer und solche, die ein Fußmarsch quer durchs Gelände nicht schreckt. Vor allem aber wird es ein Tag, an dem die friedlich gesonnenen Demonstranten nach dem Schock von Rostock endlich ein Erfolgserlebnis haben werden. 5000 Leute, wenn die loslaufen, das ist schon was, in der Tat: An diesem Morgen mögen es sogar mehr sein, die sich von Reddelich aus auf der B 105 in Bewegung setzen. G 8, G 8, rufen sie, wir sind die nackte Macht.

Die Sonne scheint, und manche sind, wenn auch nicht nackt, so doch nur leicht bekleidet. Ein schöner Tag für einen Ausflug, an Korn- und Mohnblumen geht es vorbei, und als ein Stück voraus Blaulichter der Polizei auf der Straße blinken, da biegen sie einfach links ab und ziehen durchs Grüne weiter, rechts ein Wäldchen, links ein Weizenfeld.

Bald kreisen Hubschrauber am Himmel, und das Bild, das sich den Piloten bietet, dürfte Gedanken wecken an historische Schlachten: lange Züge in der Landschaft, aufgefächert wie die Finger einer Hand, und wenn die Beobachter am Himmel die Strategie erkennen sollten, dann ist es jetzt zu spät. Die Straße nach Heiligendamm ist das Ziel der Protestierer, und die Polizeikräfte, die sie dort erwarten, sind viel zu wenig für die Masse Mensch, die an mehreren Stellen zugleich über den Bahndamm auf die Straße quillt.

Den Gipfel von seiner Umgebung abschneiden, seine Versorgung stören, das war das Ziel - und es ist erreicht. Tausende sitzen auf dem Asphalt und können es kaum fassen. Eine Frau ruft: "Wir sitzen hier, wir waren friedlich, es hat geklappt." Jubel und Klatschen sind die Antwort. Polizisten in Kampfmontur stehen untätig am Rand, und wenn man sagte, sie ließen sich von der guten Stimmung anstecken, wäre es übertrieben.

Ein langes Stück Straße ist besetzt, und am vorderen Ende stehen die Demonstranten sogar unmittelbar am Zaun. War da mal was mit Bannmeile? Mit gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Größe der Verbotszone? Alles hinfällig, der Zaun ist erreicht, und die Polizisten, die dort eine letzte Verteidigungsreihe gebildet haben, müssen sich von den Demonstranten verhöhnen lassen: "Für die Bonzen steht ihr da, Marionetten hahaha." Dann kommen Clowns, bauen sich vor den Polizisten auf, treiben ihre Scherze mit ihnen und bewerfen sie mit Wattebäuschchen.

Auch die andere Zufahrtsstraße nach Heiligendamm ist unterdessen besetzt, aber dort kommen am Abend die Wasserwerfer. Gerade sind in den Kirchen am Rande des Spektakels Gebete gesprochen worden, und in der von Steffenshagen hat der Pastor ausdrücklich die Bitte mit eingeschlossen, dass alles friedlich abgehen möge, da wird auch schon der Wasserhahn aufgedreht. Die Niederlage der Polizei soll keine totale sein.

Donnerstag.

Am Himmel ist keine Wolke. Sanft schlagen, weiß aufschäumend und leise rauschend, die Wellen der Ostsee an den Strand. Etwas oberhalb umschließen drei strahlend weiße Gebäude makellose Rasenflächen und geharkte Kieswege. Das imposanteste Gebäude, das Kurhaus, hat eine Säulenterrasse und am Fries eine lateinische Inschrift. Übersetzt: "Freude empfängt dich hier, entsteigst du gesundet dem Bade."

Das ist ein hübsches Versprechen, und es hat sie über die Jahre immer wieder nach Heiligendamm gelockt - die Besitzer von Titeln, Positionen oder wenigstens Geld. Seitdem Ende des 18. Jahrhunderts Herzog Friedrich Franz I. von Mecklenburg-Schwerin auf Anraten seines Leibarztes in der Ostsee gebadet hatte und so zum Wegbereiter für das erste deutsche Seebad geworden war, hatte Europas Hochadel ein neues Ferienziel. Und nicht nur der: Rainer Maria Rilke war hier, Marcel Proust, Felix Mendelssohn Bartholdy, später auch ein gewisser Adolf Hitler.

In DDR-Zeiten wurde die Weiße Stadt am Meer, wie man sie nannte, zum Sanatorium der Werktätigen, es kam der Verfall, es kam, nach der Wiedervereinigung, ein Investor, und jetzt kommen aus der geöffneten Flügeltür des Kurhauses acht Herren und eine Dame geschritten. Auf der Tribüne für die Fotografen macht es klackklackklack, die Prozession kommt über den Rasen, und dann richten sich die Herrschaften plötzlich zu einer Linie aus wie Metallspäne an einem Magneten. Schildchen im Gras mit der jeweiligen Landesflagge haben ihnen gezeigt, wo sie zu stehen und die Fotografen anzuschauen haben. Klackklackklack. Es sind die jetzt entstehenden Fotos, die mindestens so wichtig sind wie alles, was bei diesem Gipfel besprochen wird, denn sie beweisen: Es gibt sie, die vom EU-Kommissionspräsidenten Manuel Barroso ergänzte Familie der Acht, und zwar unbehelligt, unbeeinträchtigt und unbeeindruckt von allen Protesten.

Nach dem Familienfoto ist der Termin mit den Junioren. Die Jugendlichen vom J-8-Gipfel nehmen Platz am runden Tisch der Staatenlenker und tragen nacheinander ihre Forderungen und Vorschläge vor. Es sind abgelesene, von Erwachsenen gefeilte Statements, sie klingen fast schon wie die der Politiker. Der russische Junge sitzt neben Putin, der Italiener neben Prodi, paarweise haben sie sich angeordnet, nur einer hat keinen Partner. Das ist der 17-jährige Tansanier Isaya Yunge. Er war eigentlich nicht vorgesehen bei diesem Treffen.

Doch das achtköpfige deutsche Team aus der hessischen Internatsschule Schloss Hansenberg fand es wichtig, einen Afrikaner mit dabeizuhaben und wollte dafür sogar auf den eigenen Sitz verzichten - ein bemerkenswertes und die Staats- und Regierungschefs vielleicht sogar ein bisschen beschämendes politisches Signal. Am Ende entschied die deutsche Kanzlerin, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen, und so kamen beide mit an den Tisch, die Deutsche und der Afrikaner.

Spannend wird es bei dem Treffen zwischen Jung und Alt, als Merkel der Amerikanerin Kavisha Narra, 16, das Wort erteilt, und zwar mit den Worten, sie sei gespannt, was Kavisha zum Thema Klimaschutz zu sagen habe. Da umspielt ein maliziöses Lächeln die eine oder andere Lippe in der Runde, denn die Ironie der Situation ist offensichtlich: Bush, dem Bremser in Sachen Klima, wird jetzt womöglich von einer jungen Frau aus dem eigenen Land eingeheizt. Und genauso kommt es: Kavisha hält ein starkes Plädoyer für die Bekämpfung der Erderwärmung und erntet Zustimmung in der Runde, nur von ihrem Präsidenten nicht.

Dann ist unser Besuch im Allerheiligsten zu Ende, und eigentlich sollte uns jetzt die dampfende Nostalgiebahn Molli aus dem eingezäunten Gehege wieder hinausbringen ins richtige Leben. Am Vormittag bei der Herfahrt fuhr sie noch, doch inzwischen haben sich wie am Vortag Demonstranten auf der Strecke festgesetzt, die Straßen sind ebenfalls blockiert, und so muss der Journalistentross mit einem Marineboot abtransportiert werden. Was der Gipfel von außen benötigt, wer ihn erreichen, wer ihn verlassen muss - ohne Schiffe, ohne Helikopter ginge nichts mehr. Keine Frage: die Störung, sie funktioniert.

Freitag.

Der letzte Gipfeltag, und wenn man genau hinhört, dann müsste in Heiligendamm und in den Orten rundherum eigentlich ein kollektiver Seufzer der Erleichterung zu hören sein. Selbst die Familie Korinth in Reddelich ist nach der zwischenzeitlichen Annäherung wieder auf Abstand gegangen. In der Nacht zu Donnerstag brannten plötzlich Mülleimer im Dorf, und die Polizei, sonst so zahlreich auf den Straßen, dass Marvin mit dem Zählen kaum nachkommt, ließ sich lange bitten. Der Spielplatz ist jetzt erst mal tabu. Und Rainer Friedemann in Heiligendamm? Ist empört.

Am Donnerstagmorgen hat er versucht, nach Rostock durchzukommen, schon bald musste er wieder umkehren. Für diesen Freitag hat er sich freigenommen. Heiligendamm, sagt Friedemann, sei "total eingekesselt" von Protestierern, und die Polizei, die doch genau das verhindern sollte, habe sich schlichtweg ergeben und hinter den Zaun zurückgezogen. Nur gut, sagt er, dass er so weitsichtig gewesen sei, sich mit großen Essensvorräten einzudecken.

Bald freilich wird all dies vergessen sein. Das gewohnte Leben wird zurückkehren nach Mecklenburg-Vorpommern, und vielleicht wird es diese Art von Heimsuchung ohnehin nicht mehr lange geben. Jedenfalls glaubt dies Jean Ziegler. Der Satz, den er in der Nikolaikirche dazu spricht, ist reines Wunschdenken, aber wieso soll einer nicht Wünsche denken? Ziegler sagt, und er löst damit großen Beifall aus: "Ich glaube, es ist das letzte G-8-Treffen, das es gibt, aber uns wird es immer noch geben."

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