Norwegen:Fünf Jahre nach Utøya klaffen Wunden der Erinnerung

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Der Entwurf des schwedischen Künstlers Jonas Dahlberg für das Mahnmal: Fünf Jahre ist es jetzt her, dass der Rechtsradikale Anders Breivik auf der Insel Utøya 69 Menschen ermordete.

(Foto: picture alliance / dpa / Jonas Dahlberg Studio)
  • Vor fünf Jahren tötete der Rechtsextreme Anders Behring Breivik in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen.
  • Noch immer ringt Norwegen mit der Aufbearbeitung der Anschläge. Gegen eine Gedenkstätte haben jetzt mehrere Anwohner geklagt.

Von Silke Bigalke, Stockholm

Zur norwegischen Zeitung Aftenposten gehört ein Wochenmagazin, das vergangenen Freitag eine SMS-Sammlung veröffentlichte: Nachrichten von der Insel Utøya. Kinder hatten sie ihren Eltern geschickt, während ein Mann mit Sturmgewehr Jagd auf sie machte. Das war am 22. Juli 2011, vor fünf Jahren.

"Ich liebe euch über alles in der Welt. Ruft mich nicht an", schrieb ein Mädchen, das sich unter einer Klippe versteckte. "Mama, ich habe solche Angst zu sterben." Das Mädchen hat überlebt. 69 andere, überwiegend junge Menschen, starben, ermordet vom rechtsextremen Terroristen Anders Behring Breivik. Zuvor hatte er neun Menschen durch eine Bombe in Oslo getötet.

Seit vergangenem Jahr gibt es wieder Sommerlager auf der Insel

Als das Heft mit den SMS erschien, bestimmte eine andere Katastrophe die Nachrichten. In Nizza war am Abend zuvor ein Mann mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge gerast und hatte 84 Menschen getötet. Die norwegische Ministerpräsidentin Erna Solberg sprach den Franzosen ihr Mitgefühl aus, in einem Gastbeitrag für die Zeitung Verdens Gang schrieb sie, dass die Attacke in Nizza "eine grausige Erinnerung" daran sei, "wie zerbrechlich unsere Sicherheit sein kann".

Dabei haben die Norweger diese Zerbrechlichkeit kaum vergessen. Die letzten fünf Jahre haben sie versucht, den Angriff auf Utøya zu verarbeiten, die Frage nach der Zukunft der Insel steht beispielhaft dafür. Seit 2015 trifft sich die Jugend der Arbeiterpartei, die AUF, wieder dort zum Sommerlager. Breivik hatte gezielt die Partei angegriffen, der er die Schuld an einer angeblichen "Islamisierung" Norwegens gab. Der AUF war es wichtig, Breivik nicht zerstören zu lassen, wofür Utøya stand: Gemeinschaft, Offenheit, Demokratie. Für die Familien der Opfer war es wichtig, dass sichtbar an deren Tod erinnert wird.

Es gab schließlich einen Kompromiss. Die Parteijugend hat vier Jahre gewartet, bevor sie auf die Insel zurückgekehrte. Teile der Cafeteria, in der damals 13 Jugendliche starben, wurden erhalten, einige der Wände sind samt Einschusslöchern in ein neues Gebäude integriert worden, das nun "Hegnhuset" heißt, Schutzhaus. Dort soll ein Lernzentrum entstehen; es gibt eine Ausstellung, in der auch die SMS gezeigt werden. Am Jahrestag ist Eröffnung, die Toten haben ihren Platz auf der Insel.

Anwohner klagen gegen die Gedenkstätte

Erika Fatland, Sozialanthropologin, hat Hinterbliebene und Überlebende im ersten Jahr nach dem Anschlag für ein Buch begleitet. Die AUF sei viele Kompromisse eingegangen, "damit jeder so zufrieden sein kann, wie es in dieser Situation überhaupt möglich ist", sagt sie.

Am Ufer gegenüber der Insel ist das nicht gelungen. Dort plant die Regierung eine Gedenkstätte, die jedem offensteht. Dort soll eine Landzunge vom Ufer abgetrennt werden, mit einem tiefen Schnitt in den Felsen. Der Graben soll den Verlust spürbar machen, "Wunde der Erinnerung", nennt der Architekt den Entwurf.

Die Anwohner waren von Anfang an gegen den Plan. 22 von ihnen klagen nun, sie leiden wie andere noch immer unter dem 22. Juli, das Denkmal macht ihnen ein Vergessen unmöglich. Viele von ihnen fuhren damals mit ihren Booten auf den See, um Flüchtende aus dem Wasser zu retten. Auf manche hat Breivik geschossen, sie haben Tote gesehen, Verwundeten geholfen. Bei vielen habe sich "Angst und Trauer in den Gedanken und Körpern festgesetzt", sagt Anwalt Marius Nielsen. Der Ort, der dem Land eigentlich helfen sollte, die Trauer zu bewältigen, wird nun Gerichte beschäftigen. Die Klage ist bereits eingereicht.

Breivik wird das Land noch lange beschäftigen

Dabei beschäftigt die Norweger noch ein ganz anderer Prozess: Breivik hat die Regierung verklagt, als das Gericht im März tagte, mussten die Norweger anhören, wie sich der Massenmörder über die Behandlung und das Essen in Haft beschwerte. Kaum jemand rechnete damit, doch das Gericht gab ihm in erster Instanz recht, als es die lange Isolationshaft und die häufigen Leibesvisitationen als inhumane Behandlung bewertete. Das Justizministerium will nun in Berufung gehen.

"Das war die richtige Entscheidung", sagt Sozialanthropologin Erika Fatland zur Berufung, auch wenn niemand einen weiteren Breivik-Prozess wolle. "Wir müssen wohl damit leben, dass wir von Zeit zu Zeit von ihm hören." Breivik wird das Land noch lange beschäftigen, er ist zu 21 Jahren Haft verurteilt worden, mit anschließender Sicherheitsverwahrung.

Vor dem Jahrestag ging es jedoch vor allem um Überlebende und Angehörige, viele kamen in Medien zu Wort. Für Erika Fatland ist das eine "gute Art" der Aufmerksamkeit. Nizza habe sie daran erinnert, dass Menschen in ganz Europa mit dem Terror leben müssen. In Norwegen blicke man nun mit etwas Abstand zurück, aber immer noch emotional. Sie selbst musste weinen, als sie die SMS von Utøya las. Einige waren die letzte Nachrichten von Kindern an die Eltern.

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