Nordrhein-Westfalen:Praxistest für die Pop-up-Partei

Im Mai sind die Piraten in den Landtag von Nordrhein-Westfalen eingezogen - mit dem Anspruch, alles anders zu machen. Sechs Monate später haben sie sich den Ritualen des Parlaments angepasst und verheddern sich in Grundsatzdiskussionen.

Bernd Dörries, Düsseldorf

Wahlkampf NRW - Piraten

Im Mai machte Marc Olejak, 41, noch Werbung mit einem Bollerwagen. Jetzt ist er einer von 20 Abgeordneten der Piratenpartei im Landtag von NRW. Dort sind sie bisher recht zahm geblieben.

(Foto: dpa)

Es gibt Piraten, die gerne in Talkshows herumsitzen und Bücher schreiben, die man nicht unbedingt lesen muss. Und es gibt Joachim Paul, der gerade mit dem Bürgermeister von Neuss ein ziemlich schweres Mittagessen zu sich genommen hat, einen noch schwereren Wein dazu und nun etwas geschafft um die Ecke der Ebene E 2 des Düsseldorfer Landtages biegt.

Joachim Paul, 55, ist ein recht barocker Typ, so ein Rezzo Schlauch auf halbem Wege. Er ist Fraktionschef der Piraten im Landtag von Nordrhein-Westfalen und damit im Prinzip der ranghöchste Repräsentant einer Partei, in der man auf keinen Fall sagen darf, deren ranghöchster Repräsentant zu sein. Paul wird nicht so häufig in Talkshows eingeladen, und ein Buch hat er auch noch nicht geschrieben. Er und seine Fraktion haben sich in den vergangenen Monaten eher nach innen gearbeitet, wenn man das so sagen kann.

Sie sind im Mai erst in das größte Landesparlament eingezogen und dann in ihre Fraktionsräume in der Ebene E 2, direkt neben der CDU. Und jetzt wollen sie dort Politik machen. Es beginnt nun also der erste richtig große Praxistest für eine Partei, die auf einmal da war, wie ein Pop-up-Fenster im Internet. Von der man aber das Gefühl hat, dass die, die sie einst gewählt haben, sie nun schon wieder gelangweilt wegklicken.

Wie macht man Opposition, wenn keine Entscheidungen fallen

Nur noch bei vier Prozent liegt die Partei in manchen Umfragen. Es wäre also gar nicht schlecht für die Piraten, wenn sie nun mal liefern könnte, wie das in der Sprache der Politik heißt. Nur, wie macht man das in der Opposition und in einem Landesparlament, in dem es gerade nicht viel zu entscheiden gibt?

Ein Gespräch mit Joachim Paul ist immer unterhaltsam, weil er Sachen sagt, die irgendwie klug klingen. Von seinem Büro aus hat er einen wunderbaren Blick über den Rhein. Die Lastenkähne auf dem Fluss mögen für andere etwas Beruhigendes haben, für Joachim Paul nicht.

Er fängt mit dem ganz Großen an, mit seiner These, dass die heutige Demokratie doch auf dem Buchdruck von Gutenberg beruhe, auf Verfassungen aus Papier. Und da dem heute nicht mehr so sei, müsse alles neu erdacht werden. Was alles, ist aber leider noch nicht so ganz klar. "Die Politik muss transparenter werden, wir haben aber auch noch keine klare Definition von Transparenz", sagt Paul.

"Ich rate meiner Partei dringend, sich ein eigenes Manifest zu geben"

Studenten der Politikwissenschaft kennen das, da beginnen die Seminare auch immer damit, dass der Professor sagt: Lassen Sie uns doch mal dieses oder jenes definieren. Meistens endet dann alles in einem großen Durcheinander. So ähnlich ist es bei den Piraten.

"Ich rate meiner Partei dringend, sich ein eigenes Manifest zu geben", sagt Paul in der Mitte des Gesprächs. Er zählt dann noch viele Themen auf, den Einfluss der Lobbyverbände, die Undurchsichtigkeit des Haushaltes, die Monopole. Das alles trägt Paul in einem Ton vor, bei dem immer etwas mitschwingt, das Misstrauen auf die da oben. Deshalb waren die Piraten wohl für viele Wähler attraktiv. Jetzt sitzen die Piraten in den Fluren des Landtages und bieten ihrem Wähler an, doch mitzumachen. Nur der Wähler will irgendwie nicht. "Das könnten sicher noch mehr sein", sagt Paul.

Einfluss der Piratenpartei in Deutschland

"Ich beantrage eine nicht öffentliche Sitzung"

Dabei sind die Hürden gar nicht so hoch. Man kann einfach mal reinschauen, ganz nah dran sein, wenn Politik gemacht oder vorbereitet wird. Es ist ein Dienstagvormittag, zehn Uhr, Rechner hochfahren und reinklicken in die Fraktionssitzung der Piraten. Erst ruckelt es ein wenig, aber dann ist man dabei. Keine andere Partei bietet das an, die Piraten versuchen wirklich, ihre Politik transparent zu machen - von der Idee bis zum Gesetzentwurf.

Erst einmal geht es aber um die Kaffeemaschine, die auf Kosten der Fraktion angeschafft wurde, um Besucher zu bewirten. Es gibt Probleme mit ihrer Funktionsweise. Manchmal ist es vielleicht ganz gut, nicht so genau zu wissen, was die politischen Fraktionen so machen, in ihren Sitzungen. Sonst verliert man die Hoffnung, dass es zumindest wichtig sein könnte.

Andererseits wird es jetzt bei den Piraten schon interessant, weil sie bei den kommenden Tagesordnungspunkten immer wieder an Grenzen stoßen. Weil sich bei jedem Punkt letztlich die Grundsatzfrage stellt: Machen wir das jetzt nicht öffentlich - werden wir dann wie die anderen?

Ein Abgeordneter schlägt vor, die Partei solle doch eine kommunalpolitische Vereinigung gründen, so wie es die anderen Parteien auch machen. Das kann man als Bildungswerk organisieren oder als Stiftung, dafür gibt es Geld vom Staat, eine Million Euro vielleicht, vielleicht auch nicht. Wichtig sei der Bildungsauftrag, sagt der Abgeordnete, der sich darum drehe, die Mandatsträger der Piraten in den Kommunen für ihre Arbeit zu schulen. Das Problem ist: Derzeit haben die Piraten in Nordrhein-Westfalen genau zwei Mitglieder in den Gemeinderäten.

Es wird immer gleich sehr grundsätzlich

Es ist keine sehr angenehme Stimmung da in der Piratenfraktion, das kriegt man auch vor dem Bildschirm mit. Es wird immer gleich sehr grundsätzlich. Auch im Ton. Der Abgeordnete Michele Marsching möchte daher, dass die Fraktionsführung Instrumente in die Hand bekommt, mit denen sie die Abgeordneten rügen kann, wenn sie in der Fraktionssitzung ausfällig werden, wie es bereits geschah. "Ich beantrage eine nicht-öffentliche Sitzung, damit ich Namen nennen kann", sagt Marsching.

So wird bei den Piraten, die doch unbedingt Transparenz wollen, immer häufiger die Kamera ausgemacht, wenn die Dinge spannend werden oder kontrovers. Einen öffentlichen Aufschrei gibt es nicht, was wohl auch damit zu tun hat, dass die öffentlichen Sitzungen der Fraktion fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden.

Der Bürger, so sieht es aus, hat die Piraten gewählt, weil sie ihm versprochen haben, dass er sich beteiligen kann. Das hat dem Bürger offenbar gereicht. Mitmachen will er nicht. Nur etwa fünfzig Menschen schauen sich die Fraktionssitzungen an.

Der Schwarm sind nur wenige

Und auch beim wichtigsten Instrument der Piraten, der Software Liquid Feedback, sieht es nicht anders aus: Da können die Mitglieder sich an der Formulierung von Programmen, Anträgen und Gesetzesentwürfen beteiligen. Die Schwarmintelligenz sollte zu besseren Lösungen führen, der Schwarm sind aber nur wenige.

Es ist ein Donnerstagmorgen im Landtag, Joachim Paul geht ans Rednerpult und hält eine Rede, die durch Schwarmintelligenz entstand. Jeder aus seiner Fraktion hat ihm geschickt, was ihm wichtig ist, Paul darf es dann im Parlament vortragen. Es ist in der Welt des Parlamentarismus ein großer Tag, auch wenn man das vor den Türen des Landtages schon nicht mehr so wahrnimmt.

Paul hält seine Erwiderung auf die Regierungserklärung von Hannelore Kraft, es könnte eine kraftvolle Replik werden, ein Ausrufezeichen der Piraten im Landtag, ein Hallo hier sind wir. Es wird dann nicht mal ein Lüftchen. "Dies erfordert einerseits eine Binnendifferenz-ierung der Förderprogramme, andererseits aber umso mehr eine wirksame Abstimmung der Förderbemühungen: Wir halten es für entscheidend, dass die Förderung abgestimmt, bedarfsgerecht und zielgerichtet ist." Die Piraten klingen schon nach wenigen Monaten so, wie sie nie sein wollten.

Digitale Partei pocht auf analoge Anwesenheit

Die Bilanz der Piraten im Parlament Anfang Oktober: 71 Kleine Anfragen, eine Große Anfrage, drei Entschließungsanträge, zwei Änderungsanträge und zwei Gesetzentwürfe. Es ist rührend zu sehen, wie sich diese Partei einerseits bemüht, ernst genommen zu werden, wie sie sich andererseits den Ritualen des Parlaments anpasst, gegen die sie angehen wollte.

Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass ausgerechnet die digitale Partei immer wieder auf die analoge Anwesenheit der Abgeordneten im Parlament pocht. Die sind alle sehr brav. Sie rauchen vielleicht etwas viel.

Auf der Terrasse des Landtages sieht man sie stehen, bleiche Gestalten mit Kippe, schwarze Klamotten, scheuer Blick. In der Kantine haben sie durchgesetzt, dass nun auch das Szenegetränk Club-Mate verkauft wird. Es ist die Übererfüllung eines Klischees.

"Wir lassen uns nicht in das alte Links-rechts-Schema einordnen", sagt Paul. Wenn man sich seine Rede noch einmal durchliest, die ja so eine Art Regierungserklärung ist, dann finden sich da viele vernünftige Vorschläge: Mehr Geld für Bildung, mehr bezahlbarer Wohnraum, mehr Nahverkehr. Dagegen haben auch die anderen Parteien nichts, die Frage ist nur, wo das Geld herkommen soll. Das sagen die Piraten nicht. "Linkspartei mit Internetanschluss", hat Christian Lindner die Piraten deshalb genannt.

Parteikollegen überlegen, ob die Fraktion überhaupt Sinn macht

Am meisten Aufmerksamkeit erhalten die Piraten durch das regelmäßige Getwittere der Abgeordneten Birgit Rydlewski, 42. Sie teilt gerne mit, dass eine ihrer sexuellen Affären mit einem Unbekannten folgenlos geblieben sei: "So: Allen einen lieben Dank, die wegen des gerissenen Kondoms mitgezittert haben: Alle Tests negativ! (Also HIV, Hep. B, Hep. C)." Ein anderes Mal berichtet sie davon, dass sie gerne an ihrem Fraktionskollegen Michele Marsching "lecken" würde.

Die Bild-Zeitung freut sich natürlich über die Aktivitäten des "Twitter-Luders". Die Piraten in NRW haben Rydlewski lange machen lassen. Es ging schließlich um das Selbstverständnis der Partei, die ja aus Menschen bestehen will, nicht aus Politikern, die sich verstellen. Jetzt ist es den meisten aber doch etwas zu viel geworden.

"Nach ziemlich genau sechs Monaten im Landtag befinden wir uns nun an einem entscheidenden Punkt", schreibt die Parlamentarische Geschäftsführerin Monika Pieper auf ihrer Internetseite. Es stelle sich die Frage, was man in den kommenden viereinhalb Jahren erreichen wolle und welche Ziele jeder einzelne Piratenabgeordnete habe.

"Wir können so weiter machen wie bisher. Jeder handelt so, wie er es für richtig hält, ohne auf die Konsequenzen Rücksicht zu nehmen. Dann sind wir ein lockerer Haufen von 20 Piraten ohne Regeln und Verbindlichkeiten." Dann müssten sich ihre Parteikollegen aber auch überlegen, "ob die Fraktion dann überhaupt Sinn macht". Das klingt nicht mal nach einer Meuterei. Das klingt nach Erschöpfung.

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