Nordafrika:Flüchtlinge mit wenig Hoffnung

Nordafrika: Noch immer wagen jeden Tag im Schnitt tausend Menschen unter lebensgefährlichen Bedingungen die Überfahrt von Nordafrika nach Europa.

Noch immer wagen jeden Tag im Schnitt tausend Menschen unter lebensgefährlichen Bedingungen die Überfahrt von Nordafrika nach Europa.

(Foto: AP)

Wenn Bundeskanzlerin Merkel Ägypten und Tunesien besucht, geht es vor allem um die Flüchtlingsfrage. Aber wer kommt eigentlich aus Nordafrika nach Europa? Und welche Chancen haben diese Menschen, bleiben zu dürfen? Ein Überblick.

Von Markus C. Schulte von Drach

Mehr als 362 000 Flüchtlinge haben Europa im vergangenen Jahr über das Mittelmeer erreicht. Viele fliehen vor Krieg und Unterdrückung. Andere hoffen einfach auf ein besseres Leben. Die meisten nutzen seit dem EU-Türkei-Deal nordafrikanische Küstenstaaten als Transitländer. Manche der Flüchtlinge stammen auch direkt von dort. Derzeit besucht Angela Merkel Ägypten und Tunesien.

Worum geht es bei dem Besuch der Bundeskanzlerin?

Für die Bundesregierung steht vor allem die Frage im Mittelpunkt, wie sich die Zahl der Flüchtlinge verringern lässt. Diskutiert wird in Europa bereits seit Jahren, dass die Länder Nordafrikas mehr zur Versorgung der Flüchtlinge beitragen und dafür wirtschaftlich stärker unterstützt werden sollen. Besonders kritisch ist die Lage in Libyen, von wo aus sich die meisten Flüchtlinge nach Europa auf den Weg machen. Das Land ist allerdings so instabil, dass ein direkter Besuch der Bundeskanzlerin dort derzeit unmöglich ist. Deshalb konzentriert sich die Diplomatie im Moment auf die Nachbarstaaten Libyens. Denn auch dort gibt es viele Probleme zu lösen.

Insbesondere seit dem Terroranschlag in Berlin durch einen tunesischen Staatsbürger und die Debatte um sexuelle Übergriffe durch Ausländer wird in Deutschland gefordert, abgelehnte Asylbewerber deutlich schneller nach Nordafrika abzuschieben. Das aber lässt sich bislang in der Praxis nicht immer umsetzen.

Ein Problem, über das Merkel bei ihren Besuchen voraussichtlich sprechen wird, ist deshalb die Rücknahme abgelehnter Asylbewerber durch die Heimatländer - die sich häufig als äußerst schwierig erweist. Anis Amri etwa, der bei seinem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz zwölf Menschen getötet hat, war schon seit Monaten ausreisepflichtig. Tunesien machte es den deutschen Behörden allerdings extrem schwer, ihn zurückzuschicken.

Es geht aber bei dem Besuch auch um die Frage, wie sich verhindern lässt, dass die Flüchtlinge überhaupt nach Europa kommen - was ihnen oft nur mit Hilfe von kriminellen Schlepperbanden gelingt. Umstritten ist die Überlegung etwa von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, in Nordafrika Zentren für Flüchtlinge einzurichten, wo diese Asyl in der EU beantragen könnten, ohne sich auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer zu machen.

Darüber hinaus wird im Bundesrat darüber gestritten, ob Länder wie Tunesien, Marokko und Algerien als sichere Herkunftsländer eingestuft werden sollten, was die Abschiebung von Menschen aus diesen Staaten erleichtern würde.

Woher stammen die meisten Flüchtlinge, die aus Nordafrika nach Europa kommen?

Dem UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR zufolge überwanden 2016 mehr als 362 000 Flüchtlinge das Mittelmeer und erreichten Europa. Davon kamen etwa 173 000 aus der Türkei nach Griechenland. Die meisten von ihnen hatten sich vor dem März auf den Weg gemacht. Danach war die Route durch den Türkei-EU-Deal weitgehend blockiert.

Den Asylsuchenden blieb danach noch der Weg von Nordafrika aus nach Italien und Spanien. Insgesamt erreichten mehr als 181 000 Flüchtlinge die EU über Italien. Davon waren 90 Prozent in Libyen in ein Boot gestiegen. Erst gegen Ende des Jahres machten sich einige Tausend Flüchtlinge auch von Marokko aus auf den Weg nach Spanien oder schafften es in die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta.

Nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Flüchtlinge machte sich von Tunesien und Ägypten aus auf den Weg nach Europa. Dem UNHCR zufolge bestiegen etwa sechs Prozent Flüchtlingsboote in Ägypten.

Die meisten Flüchtlinge, die von Nordafrika aus über das Mittelmeer Italien erreichten, stammten aus Nigeria (21 Prozent) und Eritrea (elf Prozent). Weitere wichtige Herkunftsländer waren Gambia, Guinea und die Elfenbeinküste. Und bei mehr als einem Fünftel war die Herkunft unklar. Syrer, Iraker und Afghanen fanden sich kaum unter den Asylsuchenden, die über Nordafrika kamen. Flüchtlinge aus diesen Ländern waren im Frühjahr 2016 in großer Zahl von der Türkei aus über Griechenland gekommen. Nach dem EU-Türkei-Abkommen nutzten noch einige Tausend Flüchtlinge diese Route - oder nahmen sie nahmen von der Türkei aus den Landweg nach Bulgarien.

Wie viele Asylsuchende in Deutschland waren 2016 nordafrikanischer Herkunft?

Im Vergleich zur Zahl der Asylsuchenden aus Ländern wie Syrien, Irak, Afghanistan, aber auch aus Nigeria oder Eritrea kommen relativ wenige Flüchtlinge aus nordafrikanischen Ländern. Genaue Daten gibt es bislang nur für die ersten neun Monate des Jahres 2016. Demnach stellten etwas mehr als 3000 Marokkaner erstmals einen Asylantrag in Deutschland. Dazu kamen 2700 Algerier, fast 1380 Ägypter, 711 Tunesier und etwa 780 Libyer.

Im Vergleich dazu: Im gleichen Zeitraum beantragten fast 270 000 Syrer erstmals Asyl, ebenso 130 000 Afghanen und 100 000 Iraker - die meisten von ihnen waren vor dem Türkei-EU-Deal nach Deutschland gelangt. Die Zahl der Asylanträge von Flüchtlingen aus Eritrea lag bei fast 20 000.

Wie viele Nordafrikaner finden Schutz in Deutschland?

Schutz bietet Deutschland Ausländern in Form von Asyl, nach der Genfer Flüchtlingskonvention, als subsidiären Schutz für Kriegsflüchtlinge, oder wenn eine Abschiebung nicht möglich ist, etwa weil den Betroffenen in der Heimat Folter droht.

Die Schutzquote - also der Anteil der Flüchtlinge aus einem bestimmten Land, die tatsächlich Schutz erhalten - ist je nach Herkunft extrem unterschiedlich. Am aussagekräftigsten ist die "bereinigte Schutzquote". Diese zeigt den Anteil der geschützten Flüchtlinge, deren Anträge tatsächlich inhaltlich bewertet und nicht etwa aus formalen Gründen abgewiesen wurden. Zu einer Zurückweisung kann es zum Beispiel kommen, wenn ein Flüchtling die EU zuerst in einem anderen Land betreten hat, das dann für die Prüfung des Antrags zuständig wäre. Die bereinigte Schutzquote zeigt also, wie die deutschen Behörden selbst die Lage der Flüchtlinge im jeweiligen Land einschätzen.

In den ersten drei Quartalen 2016 lag die Schutzquote für Tunesier bei ein bis zwei Prozent. Mit zwei bis acht Prozent war der Anteil unter Algeriern etwas höher. Bei den asylsuchenden Marokkanern schwankte die Quote zwischen zwei und neun Prozent. Bei den Ägyptern lag die Quote immerhin zwischen 16 und 34 Prozent. Und bei den Libyern sogar zwischen 30 und 46 Prozent.

Im Vergleich dazu: Bei Syrern lag die Schutzquote 2016 insgesamt bei 98 Prozent, bei Afghanen bei fast 56 Prozent, bei Irakern bei 80 Prozent und für Eritreer lag sie bei 92 Prozent.

Wie viele Nordafrikaner sind ausreisepflichtig, wie viele wurden abgeschoben?

Im Jahr 2016 waren 1515 Tunesier ausreisepflichtig, 116 wurden tatsächlich abgeschoben. 3736 Marokkaner hätten das Land verlassen müssen, dazu gezwungen wurden 119. Bei den Algeriern waren 3784 ausreisepflichtig, 169 wurden abgeschoben. Und während 1300 Ägypter Deutschland hätten verlassen sollen, liegt die Zahl der abgeschobenen hier nur im zweistelligen Bereich.

Wie ist die Lage in den nordafrikanischen Staaten?

Ob Flüchtlinge in ihre Heimat abgeschoben werden dürfen, hängt davon ab, wie sicher es dort ist. Wenn sie keine politische Verfolgung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung befürchten müssen, haben sie keine Aussicht auf Asyl. Abgeschoben werden sie trotzdem nicht, wenn in ihrem Herkunftsland etwa Krieg herrscht. Deshalb können die meisten syrischen Flüchtlinge in Deutschland bleiben - zumindest vorläufig.

Aber auch wenn Menschen abgeschoben werden sollen, scheitert das häufig daran, dass die Herkunftsländer sie nicht zurücknehmen wollen. Das gilt auch für die nordafrikanischen Staaten. Wenn etwa die Identität aus deren Sicht nicht eindeutig geklärt ist, verweigern sie die Einreise - wie es etwa bei dem tunesischen Gefährder Anis Amri der Fall war.

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International warnen darüber hinaus davor, Tunesien, Algerien, Marokko oder Ägypten als sichere Herkunftsländer zu betrachten. Libyen gilt ohnehin als Krisenstaat.

Die Lage in Tunesien

Tunesien hat sich nach dem Arabischen Frühling zur Demokratie entwickelt. Menschenrechtsorganisationen berichten jedoch noch immer von Folter in den Gefängnissen. Homosexualität ist verboten. Das Land hat auch Probleme mit dem Islamischen Staat, dessen Kämpfer noch immer im Nachbarland Libyen aktiv sind und bereits nach Tunesien eindrangen. Auch im Land selbst hat die Terrororganisation Anhänger. So tötete 2015 ein Tunesier im Namen des IS 38 Menschen bei dem Anschlag auf Touristenhotels in Port El-Kantaoui.

Tunesien tut sich schwer damit, abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen. Den tunesischen Behörden wird von Deutschland vorgeworfen, die notwendigen Prozesse zu verzögern. Auch Tunesien war 2016 Reiseziel des deutschen Innenministers. Nach seinem Besuch ist die Zahl der Abschiebungen etwas gestiegen. Bei einer Visite des tunesischen Ministerpräsidenten Youssef Chahed in Berlin wurde vereinbart, die Zusammenarbeit noch weiter zu verbessern.

Die Lage in Ägypten

Ägypten ist seit dem Militärputsch ein Polizeistaat. Das Land leidet unter politischer Repression und Folter. In den Gefängnissen sitzen Tausende Menschen, die nie ein rechtsstaatliches Verfahren bekommen haben. Meinungs- und Pressefreiheit sind nicht gewährleistet.

Trotzdem wird über die Einrichtung eines Rückführungszentrums in Ägypten diskutiert, in das Deutschland abgelehnte Asylbewerber schicken könnte. Und zwar nicht nur Ägypter, sondern auch andere Flüchtlinge, die ihre Herkunft verschleiert haben oder von ihrem Heimatland nicht zurückgenommen werden. Bislang hat Kairo daran allerdings wenig Interesse gezeigt.

Die Lage in Algerien

In Algerien sind Amnesty International zufolge die Meinungs- und Versammlungsfreiheit beeinträchtigt, Pressefreiheit gibt es nicht. Demonstrationen werden immer wieder mit Gewalt aufgelöst, Regimekritiker verfolgt und weggesperrt. Es gibt Probleme mit Fundamentalisten, in den Grenzgebieten operieren islamistische Milizen, die von der Regierung bekämpft werden. Homosexualität ist verboten, der Abfall vom islamischen Glauben ebenfalls. Frauen und Mädchen sind von sexueller Gewalt bedroht.

Im Frühjahr 2016 reiste Deutschlands Innenminister Thomas de Maizière nach Algerien, um die Regierung zu einer stärkeren Kooperation zu bewegen. Seitdem ist die Zahl der Abschiebungen ein wenig gestiegen.

Die Lage in Marokko

Marokko ist eine Monarchie mit dem König als absolutem Herrscher. Nach dem Arabischen Frühling 2011 wurde dessen Macht zwar eingeschränkt. Echte Meinungsfreiheit gibt es aber weiterhin nicht. Politische Gegner werden verfolgt und verhaftet. Amnesty International zufolge wird in den Gefängnissen gefoltert. Homosexualität ist strafbar, Ehebruch ebenfalls. Flüchtlinge müssen laut Amnesty damit rechnen, festgenommen und misshandelt zu werden.

Innenministers de Maizière besuchte 2016 auch Marokko und vereinbarte mit der Regierung eine bessere Kooperation bei der Rückführung marokkanischer Migranten. Die Bundesregierung sagte dafür zu, das Land im Streit um ein Agrar- und Fischereiabkommen mit der EU zu unterstützen. Die Zahl der Abschiebungen hat sich seitdem ein wenig erhöht.

Die Lage in Libyen

Libyen leidet noch immer unter dem Bürgerkrieg, der 2014 erneut ausgebrochen war. Seit dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi 2011 waren immer wieder Konflikte aufgeflammt. Obwohl inzwischen eine international anerkannte Einheitsregierung in Tripolis arbeitet, stehen weite Teile des Landes unter der Kontrolle bewaffneter Gruppen. Neben etlichen Milizen sind auch Kämpfer der Terrorgruppen Islamischer Staat und al-Qaida aktiv.

Auch wichtige Küstenabschnitte werden von Milizen beherrscht, die nichts gegen die Schlepperbanden dort unternehmen. Von den mehr als 181 000 Flüchtlingen, die 2016 das Mittelmeer Richtung Italien überquert haben, waren 90 Prozent hier gestartet. Schätzungen zufolge könnten in Libyen derzeit noch 300 000 bis 350 000 Flüchtlinge auf eine Gelegenheit warten, sich mit den Booten und Schiffen der Schleuser auf den Weg nach Europa zu machen.

Bei dem Besuch der Bundeskanzlerin in Tunesien und Ägypten geht es auch um die Frage, was die Nachbarstaaten Libyens mit europäischer Unterstützung tun können, um das Land zu stabilisieren.

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